Debatte

Den Pressekodex nicht zum Sündenbock machen

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Es handele sich um ein Gebot – nicht um ein Gesetz. Die Entscheidung, wie über eine Straftat berichtet werde, ob dabei Nationalität, Ethnie oder Religion für die Einordnung der Tat relevant seien oder nicht, müssten immer noch Journalisten selbst treffen, meint Thomas Hauser, der Chefredakteur der Badischen Zeitung, in seinem Gastbeitrag für die drehscheibe.

Hier wird ein Blitzableiter gesucht. Tanit Koch, die neue Chefredakteurin der Bild, sieht eine Bevormundung der Leser, die brandgefährlich sei. Dabei hat doch gerade die Bild-Zeitung sich in den vergangenen Jahren herzlich wenig um die Arbeit des Deutschen Presserates geschert. Die Debatte um den Artikel 12.1. des Pressekodexes lenkt, so meine ich, von unserer eigenen Verantwortung als Journalisten ab und von eigenen Versäumnissen.

Warum? Der Pressekodex ist eine freiwillige Selbstverpflichtung kein Gesetz. Und der Presserat ist kein Gericht. Wem Kodex oder Spruchpraxis nicht gefallen, der kann sich über die Journalistengewerkschaften oder die Verlegerverbände um Änderungen bemühen. Dass es solche Anstrengungen im größeren Stil vor der Silvesternacht in Köln gegeben hätte, ist mir nicht bekannt. Der Artikel 12.1. ist zudem kein Verbot, sondern ein Gebot, er ermahnt uns Journalisten in jedem Einzelfall darüber nachzudenken, ob Nationalität, Ethnie oder Religion für die Einordnung einer Straftat relevant sind oder nicht. Diese Entscheidung kann uns niemand abnehmen. Der Presserat kann, wenn sich jemand darüber beschwert, allenfalls rügen. Mit Kritik, Rügen oder gar juristischen Verfahren müssen Journalisten immer rechnen. Handwerkliche Sorgfalt und verantwortungsvolle Abwägung können das nicht gänzlich verhindern, aber das Gewissen erleichtern.

Die Erfahrung der Silvesternacht in Köln zeigt uns aber, dass Polizei und Journalisten den Pressekodex in den vergangenen Jahren dazu genutzt haben, sich dahinter zu verstecken. Wieso ihn die Polizei – und zwar nicht nur in Köln – als Richtschnur für ihre Öffentlichkeitsarbeit nutzt, vermag ich nicht einzusehen. Aber was hätte uns gehindert, die Kölner Ereignisse so zu schildern, wie sie sich zugetragen haben? Dass da Banden von Nordafrikanern seit Jahren ihr Unwesen treiben und den Zustrom von Flüchtlingen dazu nutzen, in Flüchtlingsunterkünften gezielt Verstärkung zu rekrutieren. Dass die Polizei dem schon länger nicht Herr wird, dass dies aber eine Minderheit ist und dass Straftaten, von wem auch immer sie begangen werden, geahndet werden müssen. Der Presserat sicher nicht.

Keine falsche Zurückhaltung

In Freiburg gab es vor zwei Jahren eine Häufung von Straftaten durch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Nordafrika auf einem zentrumsnahen Platz. Als wir darüber berichtet haben, hagelte es Kritik von der Stadtverwaltung und aus der Bevölkerung. Eine Demonstration vor der Freiburger Lokalredaktion warf uns Rassismus vor. Zwei Jahre später rühmte sich der Freiburger Oberbürgermeister bei Anne Will, dass die Stadt das Problem entschlossen angepackt habe.

Wir waren nicht immer so konsequent. Immer wieder gab und gibt es Fälle falscher Zurückhaltung. Aber wir sollten auch nicht von einem Extrem zum anderen wechseln. Wir sollten unserer Verantwortung gerecht werden. Dazu gehört auch, die lautstarken Parolen zu hinterfragen, der Bürger wolle nicht bevormundet werde, er könne die Dinge selbst einordnen. Ersteres will kein vernünftiger Journalist, aber kann er Zweiteres wirklich? Um einordnen zu können, ob etwa Ausländer hierzulande häufiger straffällig werden als Deutsche, müssten wir über sämtliche Straftaten berichten. Tatsächlich aber findet nur ein Bruchteil dieser Taten den Weg in die Zeitung. Diese Einordnung vermag also nur eine saubere Polizeistatistik, die wir einfordern sollten. Und wann ist ein Deutscher ein Deutscher? Für viele Kritiker unserer Arbeit als Journalisten bleibt der Ausländer mutmaßlich ein Ausländer, auch wenn er hier geboren wurde, sprachlich nicht zu unterscheiden ist und einen deutschen Pass besitzt. Und schließlich, wenn wir immer die Nationalität nennen würden, müssten wir dann für die Einordnung der Tat nicht auch immer das soziale Umfeld schildern? Aber auch das erklärt nicht immer alles.

Beispiel guter Recherche

Ein aktuelles Beispiel. In Berlin wurde dieser Tage ein Mann gefasst, der einen jungen Migranten dazu gebracht haben soll, in den Dschihad zu ziehen, wo er ums Leben kam. Die Polizei hatte die Nationalität nicht genannt, die Agenturen auch nicht. Uns und den meisten Zeitungen war das Agenturmaterial ausreichend – wir ergänzten lediglich um Freiburger Aspekte dieses Falls. Recherchiert haben die Online-Kollegen des Mannheimer Morgens, wo der Verhaftete sein Abitur machte. Der junge Mann wuchs in einem wohlhabenden Elternhaus auf. Beide Elternteile waren Akademiker, die aus Algerien zugewandert waren. Klassenkameraden erzählten, der Junge sei immer auf Identitätssuche gewesen, habe mit den Interessen den Freundeskreis gewechselt und sei zwischenzeitlich sogar in die rechte Szene abgerutscht. Der 11. September 2001 habe ihn dann in den Islamismus gezogen. Später wurde er auch mit Drogen erwischt. Es scheint also, wir reden hier von einer missglückten Integration in der zweiten Generation. Wäre es da wirklich hilfreich gewesen, lediglich den algerischen Migrationshintergrund zu erwähnen? Für die meisten Zeitungen aber war das Ereignis wahrscheinlich zu weit weg, um es selbst näher zu recherchieren und entsprechend differenziert darzustellen. Die Kollegen in Mannheim aber haben ihre Arbeit gemacht und kein Presserat wird sie dafür rügen.

Hören wir also auf, uns hinter dem Pressekodex zu verstecken oder ihn zum Sündenbock aufzublasen. Die schwierige Entscheidung im Einzelfall nimmt uns niemand ab. Auch nicht die Diskussion mit den Lesern, denen wir erklären müssen, wie wir arbeiten und warum wir manchmal anderer Meinung sind als sie.

Thomas Hauser

Autor

Thomas Hauser
Badische Zeitung
Mail: hauser@badische-zeitung.de
Web: Badische-zeitung.de

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