Treibstoff für die regionale Gemeinschaft
von Sylvia Binner
Bekommt eine Gesellschaft den Journalismus, den sie verdient? Oder machen wir es uns in den Redaktionen damit zu einfach und müssen wir gerade in Krisen wie der Corona-Pandemie beweisen, warum eine Demokratie lokalen Qualitätsjournalismus braucht? Ich frage mich angesichts der Beiträge von Michael Husarek, Marc Rath und Jost Lübben, ob regionale Medien nicht endlich wieder ein gesundes Selbstbewusstsein an den Tag legen müssten, um ihrer Rolle als Treibstoff regionaler Gemeinschaft gerecht zu werden. Sechs Denkansätze zum Journalismus nach der Pandemie.
1. Mehr Selbstbewusstsein
Raus aus dem Jammertal, Schluss mit dem Selbstmitleid – wenn die Medienbranche dieselbe Zeit und Energie, die sie in der Vergangenheit mit Selbstzerfleischung zugebracht hat, in ihre Zukunft investiert hätte, wären wir auf dem Weg der digitalen Transformation viel weiter fortgeschritten. Und hätten mehr von der Wertschätzung erlebt, die uns in den harten Zeiten der Pandemie von unseren Lesern entgegengebracht wurde. Warum? Weil in unsicheren Zeiten, in denen es von Desinformation und Verschwörungstheorien wimmelt, zuverlässige Informationen von der Mehrheit als Wert erkannt werden. Seriöse Medien sich also verloren scheinende Glaubwürdigkeit zurückerobern. Die dürfen wir nicht so schnell wieder hergeben, sondern müssen sie behaupten.
2. Ziele setzen
Natürlich gilt das nicht erst seit Pandemie und Lockdown. Aber diese besonderen Zeiten haben unserem Ziel, Leser und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, einen weiteren Push gegeben. Nicht zuletzt, weil wir in einer Phase der Isolation und Unsicherheit da sein konnten, funktioniert haben und das hehre Ziel, eine Rolle im Alltag unserer Nutzer zu spielen, in besonderer Weise Realität geworden ist. Wir haben auf Augenhöhe kommuniziert, unsere Leser gebeten, uns ihren Corona-Alltag zu schildern und sie im Gegenzug mit regionalen Informationen versorgt, die sie nirgendwo sonst in dieser Form finden konnten. Damit sind wir unserem Ziel, unverzichtbarer Begleiter in ihrem Alltag und zentrale Plattform in der Region zu werden, ein deutliches Stück näher gekommen. Die Leser haben uns das als zahlende Kunden gedankt. Über alle Kanäle zusammen verfügen wir über mehr Abonnenten als vor einem Jahr. Ein Erfolg, den wir nicht nur halten, sondern auch ausbauen wollen. Mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.
3. Dateninformiert arbeiten
Dazu zählt das dateninformierte Arbeiten. Die Digitalisierung ermöglicht uns Marktforschung in Echtzeit. Endlich lässt sich journalistisches Bauchgefühl durch Erkenntnisse über unsere Nutzer ergänzen und absichern. Oft genug bestätigen die Zahlen, was wir ohnehin geahnt haben. Zum Beispiel, dass unser größter Erfolgsfaktor die regionale Nähe ist. Aber die Daten bescheren uns auch echte Aha-Erlebnisse. Zum Beispiel, dass derselbe Artikel an unterschiedlichen Tagen und zu unterschiedlichen Tageszeiten unterschiedlich viele digitale Abo-Abschlüsse erzielt. Oder die Gesamtzahl der publizierten Artikel weniger Relevanz für unseren digitalen Erfolg hat als die Zahl der treuen Nutzer. Dennoch sollen die Daten weder Bauch noch Kopf ersetzen. Dateninformiert, nicht datendeterminiert, so lautet der kleine, aber feine Unterschied. Denn dahinter steckt immer noch ein kluger Kopf, der journalistische Entscheidungen auch mal gegen den Mainstream fällen muss. Am Ende darf Journalismus nicht allein ein Wunschkonzert sein. Wenn er den Bedürfnissen der Nutzer allerdings keinerlei Rechnung trägt, hat er keine Zukunft.
4. „Wir machen Journalismus, nicht Print“
Ein Zitat, das wir von einer Skandinavien-Reise mitgebracht haben, entlehnt von einer Präsentationsfolie in einem Osloer Verlagshaus. Eigentlich schon ein Klassiker, den wir in der Folge so strapaziert haben, dass manche Kollegen ihn zeitweise satt hattenn. Dabei taugt er als vieldeutiger Leitstern. Weil Grundfesten des präzisen Berichtens, des Analysierens und Kommentierens, des Geschichtenerzählens und Welterklärens immer noch im Kern dieselben bleiben, auch wenn sich Vertriebswege, Technik, Organisationen und alles andere darum herum grundlegend verändern. Dass Neugier, Recherche und die Nähe zu den Menschen nach wie vor zählen, dass wir weiter die Aufgabe haben, unterschiedliche Gruppen miteinander ins Gespräch zu bringen und dafür möglichst viele aus den Redaktionen hinaus müssen ins Leben, statt am Schreibtisch zu verharren. Eine Rückbesinnung auf die Tugenden des Reporters.
5. Neue Organisationsformen, neue Impulse
Grund genug, Organisationsformen und technische Systemlandschaften erneut auf den Prüfstand zu stellen. Eine schlanke Produktion, abteilungsübergreifende Teams aus Redaktion, Leser- und Werbemarkt, die gemeinsam an neuen journalistischen Produkten arbeiten, und neue Funktionen wie Datenanalysten oder Audience Engagement Manager, die in die Redaktionen integriert werden, helfen, gute, zum Teil auch jenseits der Tagesaktualität haltbare Inhalte mit Hilfe von Pushnachrichten, Newsletterfamilien, Special-Interest-Angeboten oder neuen Social-Media-Formaten besser in Szene zu setzen. Und die Pandemie hat dazu beigetragen, die Aufgeschlossenheit der Kollegen gegenüber dieser neuen Welt zu beflügeln. Von einem Tag auf den anderen wie in einem Laborversuch ins Homeoffice verbannt, haben viele die digitalen Möglichkeiten neu schätzen gelernt.
6. Keine Scheu vor der gesellschaftlichen Debatte
Dank Corona haben wir es nun amtlich: Journalismus ist systemrelevant. Eine Bestätigung, die für überzeugte Journalisten nichts wirklich Neues enthält. „Menschen brauchen sauberes Wasser, Gesellschaften saubere Information“, sagte der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im September 2020 in einem Interview mit dem DJV-Magazin journalist. Und wer, wenn nicht wir selbst, kann das ins öffentliche Licht rücken, den Dialog mit den Nutzern suchen, transparent machen, wie wir arbeiten und warum diese Arbeit wichtig, sogar unverzichtbar ist? In der Pandemie ist bei uns allen die Sehnsucht nach Zusammenhalt gewachsen. Lokaljournalismus kann Treibstoff dafür sein. Es ist an uns, das zu beweisen und zu bewerben. Es wird kein anderer für uns tun.
Zum Nachlesen
In der drehscheibe-Ausgabe 05/2021 eröffnete Michael Husarek, Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten, die Debatte. Er fragte sich, welche Leserschaft Lokalzeitungen mit ihren Angeboten überhaupt noch erreiche. In der Ausgabe 06/2021 forderte Marc Rath, Chefredakteur der Landeszeitung für die Lüneburger Heide, den Lokaljournalismus auf, sich wieder in die Mitte des Lebens zu begeben. In der Ausgabe 07/2021 erläuterte Jost Lübben, Chefredakteur der Westfalenpost, die Aufgaben, die der Lokaljournalismus derzeit gleichzeitig zu bewältigen habe. Hier geht es zu allen Beiträgen
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