Debatte

Zurück in die Mitte des Lebens

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Mögliches Zielpublikum von Lokalzeitungen: alle Altersgruppen der Gesellschaft (Foto: AdobeStock/ Syda Productions).
Mögliches Zielpublikum von Lokalzeitungen: alle Altersgruppen der Gesellschaft (Foto: AdobeStock/ Syda Productions).

Wir brauchen mehr Journalismus auf Augenhöhe. Ein Plädoyer für die Rückkehr des Lokaljournalismus zur Leserschaft. Marc Rath antwortet auf den Beitrag von Michael Husarek.


Der Terminkalender plötzlich leer. Die wöchentliche Presserunde beim Bürgermeister – abgesagt. Ausschuss- und Ratssitzungen fanden virtuell oft gar nicht statt. Die täglichen Routinen gab es nicht mehr. Stattdessen stellten sich viele neue Fragen. Manche waren lebensnotwendig, sogar überlebensnotwendig. Viele Kolleginnen und Kollegen entdeckten ihn wieder – den Lokaljournalismus: die eigene Neugier, die Frage nach dem, was die Menschen gerade wirklich bewegt, und nach neuen Informationen, 
die helfen einzuordnen und die Krise zu bewältigen.

Feedback aus der Bevölkerung 

Wir ­haben niemals zuvor so viele auf der Straße oder am Telefon „Wie gut, dass es Sie gibt“ oder „Halten Sie bitte durch“ zugerufen. Und mancher hat mir in dieser Zeit berichtet, dass er den Lokalteil, mit dem bei der Landeszeitung die Zeitung beginnt, gar nicht mehr in der üblichen Zeit schafft, die er – oder sie – sich für die Lektüre reserviert hat. Es gibt wohl kaum ein schöneres Kompliment.

Corona bekommen wir hoffentlich im Laufe des Jahres 2021 wieder in den Griff. Aber was lernen wir aus diesen Wochen und Monaten für uns? Ich hoffe, eine ganze Menge. Und ich bin da optimistisch: Es ist Zeit für eine Rückbesinnung. Für eine Wiederentdeckung des Lokaljournalismus. In manchen Redaktionen gibt es eine selbst gewählte Gefangenschaft im Dreieck von Terminjournalismus, Mailordner und Tagesregularien. Doch die besten Geschichten liegen auf der Straße. Und sie müssen auch nicht immer groß und lang sein. Um sie zu finden, muss man aber rausgehen.Wenn Corona etwas Gutes hat, dann gehört in jedem Fall dazu, wie schnell jetzt neue Strukturen geschaffen wurden. Homeoffice, mobile Arbeitsplätze, schlankere und bessere Planungsprozesse schaffen auch die Zeit für Recherche und um eben raus aufs Land zu gehen. Es müssen aber auch die Inhalte andere werden. Wer eine Tour über die Dörfer allein mit den Kaffeerunden bei den Ortsoberhäuptern verwechselt, kann sich Sprit und Aufwand auch sparen. Vielmehr geht es um einen Journalismus auf Augenhöhe mit der Leser- und Userschaft.

Neue Kanäle, andere Inhalte 

Die große Chance in der heutigen Zeit ist, dass wir über unsere verschiedenen Kanäle wirklich 16- bis 96-Jährige erreichen können. Aber nicht mit den gleichen Inhalten. Und selbst bei den gleichen Themen gilt es, sie aus und für unterschiedliche Blickwinkel zielgruppengerecht aufzubereiten. Wenn etwa in einem Landkreis die Berechnung der Kita-Gebühren von festen Sätzen auf eine einkommensabhängige Berechnung umgestellt wird, möchten die zumeist jungen Eltern erfahren, was das für sie genau bedeutet. So genau wollen es Senioren vielleicht nicht wissen, aber sie wollen verstehen, was da gerade passiert und was das bedeutet. Oft berichten wir dagegen mit dem Fokus auf die Folgen für die Stadtkasse. Das ist auch wichtig, geht aber an den Bedürfnissen derer, für die wir eigentlich ­schreiben, vorbei.

Mit dem gedruckten Tanker und den digitalen Schnellbooten haben wir nunmehr die Chance, wirklich alle Altersgruppen zu erreichen. Das hat die Papierausgabe allein früher nicht geschafft, wenn man mal ehrlich ist. Es gab nur damals keine Alternativen.

Nicht zuletzt gehört dazu, dass sich der Journalismus wieder als Lokaljournalismus im besten Sinne des Wortes versteht. Wir müssen die Orte nicht nur kennen, über die wir schreiben. Wir müssen dort ansprechbar sein und auf Augenhöhe agieren. Dabei können wir heute im direkten Gespräch, aber auch über unsere digitalen Kanäle weit mehr leisten: Foren des Austausches anbieten, Transparenz und Aufklärung schaffen.

Neue Plattformen zum Mitmachen 

Die richtige Würze ist dann durch das digitale Angebot möglich. Hier sollten Verlage lokale Mitmach- und Austausch-Plattformen anbieten und dieses Feld nicht allein Facebook & Co. überlassen. Bei der Landeszeitung in Lüneburg bauen wir seit Ende 2020 in Zusammenarbeit mit dem Start-up Lopo – Lokalportal Media ein „Lokalportal“ für den Landkreis Lüneburg auf, das genau diese Möglichkeiten anbietet und unser journalistisches Angebot um eine Community-Möglichkeit erweitert.

Eine ganz andere Gruppe wollen wir in diesem Frühjahr über vielfältige Kontakte und alle Kanäle erreichen: Neu-Lüneburger und hier insbesondere jene, die täglich ins nicht weit entfernte Hamburg pendeln. Die lesen uns nicht. Aber was lesen sie? Was denken sie und was sind ihre Themen? Und was können wir ihnen dabei liefern? Das wollen wir nicht nur herausfinden, sondern in einen direkten Dialog treten – mit „100eyes“. Wir sind die erste Lokalredaktion, die diese Software-Lösung nutzt, die direkt in unserer Nachbarschaft im journalistischen Innovationslabor der beiden Lüneburger Astrid Csuraji und Jakob Vicari von Tactile.news entwickelt wurde.

Kurzum: Wir müssen andere Wege gehen. Wir müssen diverser werden, nicht nur kulturell. Dazu gehören nicht nur die Trennung in Desk- und Reporterteams. Dazu gehört unterschiedliches Spezialwissen. Alle machen das Gleiche, war einmal.

Und ja: Dazu gehören auch Mut, Experimentierfreude und auch finanzieller Atem des Verlages. Unser Herzstück sind die Kolleginnen und Kollegen, die Stadt und Land nicht nur lieben, sondern auch leben. Wir müssen zurück in die Mitte des Lebens.

Der Text erschien zuerst in der Ausgabe 6/2021 der drehscheibe. Zur Ausgabe

Hier geht es zu dem Text von Michael Husarek aus der Ausgabe 5/2021.

 

Marc Rath

ist Chefredakteur der Landeszeitung für die Lüneburger Heide. (Foto: t&w)

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