Der Internetalltag der Deutschen
von Daniel Fiene
Im Jahr 1997 gab es die erste Ausgabe der ARD/ZDF-Onlinestudie. Netflix wurde gegründet, Fernseher hatten noch eine Röhre, und Mark Zuckerberg war 13 Jahre alt. Auch die Zeitungen wurden im Umfang noch dicker und dicker. Mit diesem nostalgischen Blick zurück scheint die heutige Medienrealität uns besonders zu fordern, in Wirklichkeit sogar zu überfordern. Das muss aber nicht sein. Denn die 25. Welle der Studie, die vor ein paar Tagen veröffentlicht wurde, gibt uns wichtige Einblicke, wie die deutschsprachige Bevölkerung das Netz nutzt und wie insbesondere dabei der Medienkonsum aussieht. Umfassendere Zahlen liefert hierzu keine andere Studie.
Seit Jahren komme ich immer wieder zur gleichen Einsicht: Die Diskussionen der Medienszene über bestimmte Apps und Netzwerke spiegeln nicht unbedingt das Interesse der Bevölkerung wieder. Und: Nur weil man selbst oder auch durch Gespräche in der Redaktion bestimmte Trends in der Mediennutzung ausmacht („Niemand ist mehr bei Facebook”), muss das nicht für den Internetalltag der Durchschnittsdeutschen gelten. Manchmal brauchen bestimmte Entwicklungen ein paar Jahre länger, manchmal gibt es auch unerwartete Veränderungen. Ein Blick in die Studie hilft Ihnen die Prioritäten für die digitalen Aktivitäten Ihrer Redaktion auf Stand zu bringen. Dort zu sein, wo auch Ihre Zielgruppe wirklich ist, statt Branchenhypes in Aktionismus zu übersetzen (Hallo, Titkok).
Im vergangenen Jahr haben wir aus der Studie erfahren, dass das Lesen von Texten aus der Mode gekommen ist. Damit Sie die Studie nicht komplett lesen brauchen, habe ich die wichtigsten Entwicklungen für Lokalredaktionen zusammengestellt.
Kurz zusammengefasst: Die Deutschen nutzen das Netz in diesem Jahr noch intensiver. Wer unter 50 ist, ist statistisch auf jeden Fall online. Ab 70 sind es immerhin 77 Prozent. Täglich werden Medieninhalte länger konsumiert, soziale Netzwerke legen weiter zu — aber die Videonutzung toppt alles. Online-Videos sind extrem Nachgefragt. Aber der Reihe nach.
Werden Online-Texte wieder wichtiger? Einige Berichte über die frischen Studienergebnisse erwecken diesen Eindruck. Ein etwas genauerer Blick in die Zahlen zeigt, dass der drastische Rückgang der Zeit, die Deutsche am Tag mit Texten verbringen, kein Ausrutscher war.
Bei der Frage „Welche Medienangebote haben in der Corona-Krise an Bedeutung gewonnen“ gab zwar mit 35 Prozent die größte Gruppe an, dass besonders „Artikel oder Berichte im Internet” wichtiger geworden sind. Aber: Wenn etwas wichtig ist, heißt es nicht, dass es unbedingt länger genutzt wird.
Tatsächlich legten Audio und Video bei der durchschnittlichen Nutzungsdauer am Tag auch in diesem Jahr deutlich zu. Videos auf 64 Minuten, Audios auf 56 Minuten und Texte landen bei 20 statt 17 Minuten. Vor wenigen Jahren lagen alle drei Gattungen noch bei rund 30 Minuten. Vor zwei Jahren setzten sich Audio und Video langsam ab - im letzten Jahr verlor Text erstmals.
Fazit: Die Textlängen unserer Artikel bestimmt meist der eingeräumte Platz in der Zeitung. Eine Konsequenz aus der Zusammenführung von Print und Online. Vielleicht sollten wir Text neu denken. Es müssen nicht immer der klassische Artikel oder die Meldung sein. Was erwarten die Deutschen auf ihrem Smartphone wirklich? Dafür spricht auch eine positive Textentwicklung aus der Studie. Es gibt einen deutlichen Anstieg in der Nutzung von Artikeln „bei anderen Anbietern”, die nicht Zeitungen oder Zeitschriften, Radio- oder Fernsehsender und Social-Media-Plattformen sind. Leider erfahren wir nicht, welche anderen Anbieter das sind. Aber es scheint ein Bedürfnis zu geben.
Wie lange hält noch die zweite Podcast-Welle? Das wird gerade oft gefragt. Nach dem Blick auf die Audio-Zahlen habe ich mich entschieden: Das ist keine zweite Welle, Podcasts sind gekommen, um zu bleiben. Vor zwei Jahren haben 14 Prozent regelmäßig Podcasts gehört. Im vergangenen Jahr waren es 20 Prozent (da war der Drosten-Podcast-Effekt schon eingerechnet). Ich habe für dieses Jahr mit einem moderaten Anstieg gerechnet. Ich lag falsch. Der Anstieg ist deutlich: 28 Prozent der Deutschen hören regelmäßig Podcasts. Aber auch die lineare Radionutzung legt weiter zu (wenn auch nur leicht), und Streamingdienste wachsen weiter kräftig. Richtige Verlierer gibt es im Audio-Bereich nicht. Was mich überrascht: Hörbücher werden nur von sechs Prozent regelmäßig genutzt. Bei meinen privaten Beobachtungen hätte ich eine stärkere Zahl erwartet.
Fazit: Setzen Sie stärker auf Audio! Das ist längst kein Hype mehr.
Was bedeutet der Video-Boom? Beim Blick auf die Zahlen können wir den Video-Boom nicht mit dem Erfolg von Netflix oder der neuen Streamingkonkurrenz erklären. Für viele Deutsche bedeutet online sein: Videos gucken. Von kurzen lustigen Handyclips, über gut kuratierte Lernformate (Tutorial-Video statt Handbuch) bis hin zum Qualitätskino. Video ist die Gattung der Wahl - zur Unterhaltung, zur Information. Sogar das Fernsehen unterstützt den Video-Boom. Die Corona-Pandemie hat den Rückgang der linearen Nutzung aufgefangen. Fernsehsender profitieren somit doppelt: Die TV-Nutzung ist weiter ordentlich und das Streaming wächst. Neu ist in diesem Jahr eine klare Aussage: Bei den Über-50-Jährigen ist das Fernsehen die erste Wahl. Wer unter 50 ist, streamt oder greift auf Mediatheken zu.
Fazit: Weder Radiosender noch Nachrichtenportale haben bisher schlüssige Video-Konzepte etabliert. Immer wieder gab es Initiativen, die irgendwann versandeten. Zu komplex war die Produktion, zu gering die Abrufe. Gab es doch mal Erfolge, klappte die Vermarktung nicht. Wenn wir ehrlich sind: Wir kennen das Thema seit Jahren, sehen jetzt die Bedeutung für die Menschen und müssen da als Branche zugeben: Da sind wir ein bisschen spät dran. Auch hier müssen wir neu denken. Vielleicht ist ein erster Schritt, künftig nicht das Fernsehen zu kopieren.
Zu dem Thema Video gibt es aber auch noch etwas zum Schmunzeln: Wissen Sie welches die dritt meistgenutzte Mediathek nach ARD und ZDF ist (je 48 Prozent pro Woche)? Arte mit 24 Prozent. ProSieben und RTL kommen auf 22 und 20 Prozent.
Sind die Deutschen Social-Media-Müde? Überraschenderweise nein. 47 Prozent der Deutschen sind wöchentlich auf Social-Media unterwegs.
Facebook ist nach wie vor das soziale Netzwerk, über das Medien die meisten Menschen erreichen können. 28 Prozent sind regelmäßig dabei (Vorjahr: 26 Prozent). Viele haben einen Rückgang erwartet, der ist aber ausgefallen. (Mehr Hintergrund gibt es in der dazugehörigen Fiene checkt’s Kolumne).
Instagram wächst weiter stark - auf 26 Prozent regelmässige Nutzer. Bei der täglichen Nutzung ist Instagram auch in diesem Jahr wieder stärker.
Und TikTok? Oft in den Schlagzeilen, wird tatsächlich von 9 Prozent genutzt — aber das ist weniger als eine App die sich an die gleiche Zielgruppe wendet. Snapchat erreicht überraschenderweise 10 Prozent.
Zum Ersten Mal ist Pinterest in der Studie dabei und landete aus dem Stand bei 7 Prozent. 0
Fazit: Facebook und Instagram sind weiter die wichtigsten Netzwerke für Lokalmedien. Beide sollten Sie nicht vernachlässigen. Bei beiden Netzwerken sind in allen Altersschichten deutlich vertreten und noch eine gute Nachricht: Gute Inhalte sind gefragt. 38 Prozent nutzen regelmäßig ihre Timeline, 36 Prozent lesen Artikel über die Netzwerke und nur 23 Prozent schauen Videos. Diese Reihenfolge ist bei den Unter-30-Jährigen übrigens identisch - nur insgesamt auf einem höheren Level.
Zum Schluss habe ich noch zwei Entdeckungen. Die Zahlen haben ein großes Potential für Lokalredaktionen. Zum ersten Mal hat sich die Studie mit Newslettern beschäftigt. 21 Prozent der Deutschen nutzen demnach mindestens einen Newsletter pro Woche. Fast so viele wie Instagram oder Facebook nutzen. Das sehe ich als Appell noch stärker über Newsletter nachzudenken: Es gibt zum Glück immer weniger automatisierte Linkschleudern. Aber am Ende ist das Potential größer als ein morgendlicher Gruß aus der Chefredaktion. Stichwort: Hohes Bindunspotential interessanter Zielgruppen durch Themen- oder Popup-Newslettern.
Und zum ersten Mal erfahren wir etwas über die Messenger-Konkurrenz von WhatsApp. Die WhatsApp-Nutzung ist noch einmal von 78 auf 81 Prozent gestiegen. Die Konkurrenz ist abgeschlagen. Threema kommt auf acht, Signal auf sechs und Threema auf drei Prozent. Wenn wir diese unglaubliche Nutzung mit den Zahlen von Facebook vergleichen (81 vs. 28 Prozent), ärgert es mich immer wieder, dass WhatsApp Qualitätsjournalismus auf der Plattform keinen Raum gibt. Wir wissen: Aufreger und ominöse Kettenbriefe verbreiten sich schnell über Gruppen. Für Aufklärung können Medien hier nicht mehr sorgen. WhatsApp stoppte vor einigen Jahren die Duldung redaktionellen Newsletter - die vor allem im Lokalen beliebt waren. Wenn ich diese Zahl sehe, denke ich auch in diesem Jahr wieder: Ich hoffe, dass sich WhatsApp seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst wird und über neue Möglichkeiten nachdenkt.
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