Leseranwalt

Zu viele übliche Verdächtige

von Gastautor

Aus drehscheibe 01/2025

Alte Bekannte zu sehen, das ist meist ein Grund zur Freude. Wenn die allerdings ständig auf der Matte stehen, kann sich Überdruss einstellen. So erging es einer
Volksstimme-Leserin mit großem Interesse an aktuellen Debatten: „Da werden immer dieselben Prominenten herumgereicht, das ist zu viel!“

In TV-Talkshows fällt das besonders ins Auge. Von dem Phänomen können sich Zeitungen jedoch nicht freisprechen. Auch bei uns kommen oft dieselben Politiker, dieselben Experten zu Wort. Dies völlig umgehen zu wollen, wäre weltfremd. Es gibt zum Beispiel in Sachsen-Anhalt nur einen Ministerpräsidenten, in Magdeburg nur eine Oberbürgermeisterin, beim FC Magdeburg nur einen Trainer. Sie üben ihre Funktionen zu einem wesentlichen Teil in der Öffentlichkeit aus, sind im Falle von Amtsträgern sogar dazu verpflichtet, Auskunft zu geben. Was sie sagen und tun, wollen viele Leser wissen. Journalisten obliegt es, die entsprechenden Informationen zu beschaffen und darzustellen. Täten sie es nicht, würden sie gegen ihren Auftrag handeln.  

Ähnlich verhält es sich bei Themen, bei denen nur wenige Fachleute das nötige Wissen haben. Zur Lage des kommunalen Haushalts ist die Kämmerin erste Anlaufstelle, für Fragen zur neuen Herz-OP-Methode der führende Kardiologe an der Uniklinik. In Kauf zu nehmender Nebeneffekt: An sich nicht prominente Experten werden aufgrund ihrer fachlichen Alleinstellung öfter um Stellungnahme gebeten und erlangen somit Bekanntheit.

Und dann gibt es noch die Fälle, in denen sich Prominente stellvertretend für „den normalen Bürger“ zu einem Sachthema äußern sollen, obwohl sie keinen besonderen Bezug dazu haben. Aus journalistischer Sicht ist das legitim. Redaktionen hoffen, dass das Inte­resse an der Person auf das Thema abstrahlt und man so möglichst viele Zuschauer, Hörer und Leser erreicht.

Unter dem Strich sollte die Kompetenz der Gesprächspartner aber wichtiger bleiben als deren Promi-Faktor. Anderenfalls kann auf Dauer ein Zustand eintreten, den Leser an ihren Zeitungen häufig kritisieren, nachzulesen unter anderem in der Studie „Journalismus und Demokratie“ der Universität Dortmund: Dort heißt es, dass Redaktionen zu nah an Funktionsträgern und zu weit weg von den normalen Bürgern seien.

Was können Journalisten tun, um perspektivenreicher zu berichten? Weg eins beginnt mit der Frage, wer alles von einem Thema betroffen ist und etwas dazu sagen kann. Das alte Schulgebäude im Ort wird saniert. Bürgermeister und Verwaltung finanzieren und planen das Vorhaben. Baubetriebe sollen es umsetzen. Eltern und Schüler hoffen auf bessere Lernbedingungen. Anwohner müssen Baulärm ertragen. Das sind mindestens sechs Sichtweisen als Ausgangspunkt für weitere Recherchen.

Weg zwei bietet sich vor allem bei Dauerbrennerthemen an: Dafür sollte man bewusst auch andere Experten als die „üblichen Verdächtigen“ suchen, vergleichbare Fachkenntnis vorausgesetzt. Wenn für den Artikel über die Autoindustrie sonst immer Professorin Müller befragt wurde – warum beim nächsten Mal nicht Professor Meier anrufen? Aus alten Bekannten und neuen Gäste kann so eine bunte Mischung mit Substanz entstehen.

 

Heike Groll

Autorin

Heike Groll ist Leitende Redakteurin in der Chefredaktion der Volksstimme und zuständig für Personalentwicklung und redaktionelles Projektmanagement. Seit 2022 ist sie auch Leseranwältin.

E-Mail: heike.groll@volksstimme.de

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