Presserat

Die Aussage des Angeklagten

von

aus drehscheibe 06/2021

Der Fall 

Eine Lokalzeitung veröffentlicht unter der Überschrift „Sexuelle Kontakte gegen Geschenke“ einen Beitrag über einen Gerichtsprozess wegen sexuellen Missbrauchs. Der Angeklagte ist geständig, sagt aber aus, dass das Mädchen sich seine Taten gegen Geschenke habe gefallen lassen. Die Aussagen des Angeklagten werden im Bericht ausführlich wiedergegeben. Eine Vertreterin eines Verbandes von Frauenberatungsstellen beschwert sich. Sie kritisiert, dass die Aussagen des Angeklagten einseitig dargestellt und verharmlost wurden. Der Beschuldigte erscheine als Opfer einer vermeintlichen Verführung durch ein elfjähriges Mädchen. Die Überschrift stelle sogar infrage, ob das Mädchen überhaupt sexuelle Gewalt erlebt habe. In der Berichterstattung finde eine Täter-Opfer-Umkehr statt, was die Würde des Mädchens verletze.

Die Redaktion 

Der Chefredakteur betont, seine Zeitung sehe es als Pflicht an, ihre Leserschaft ausführlich über das gesellschaftliche Zusammenleben zu informieren. Die unerwartet umfangreichen Schilderungen des Beschuldigten im ersten Teil des Prozesses hätten daher ihren Niederschlag im Bericht gefunden. Angesichts der Schwere der Tat sei es aus Sicht der Redaktion von öffentlichem Interesse gewesen, die Denkweise des Angeklagten zu beschreiben. Der Autor habe sich dessen Aussage nicht zu eigen gemacht, sondern darüber distanziert und im Kontext der Anklage berichtet.

Das Ergebnis 

Der Beschwerdeausschuss erkennt keine Verletzung presseethischer Grundsätze. Der Presserat kann die Beschwerde zwar nachvollziehen, da ausschließlich die Sicht des Angeklagten dargelegt wird. Gleichzeitig stellt er jedoch fest, dass in dem Artikel korrekt das wiedergegeben wird, was an diesem Verhandlungstag vor Gericht gesagt wurde. Die Redaktion hat zudem ihre Leser in der Folge auch über die Befragung des Mädchens und den Schuldspruch informiert. Unter diesen Gesichtspunkten ist der Beitrag presseethisch akzeptabel. Er verstößt weder gegen die journalistische Sorgfaltspflicht noch verletzt er die Menschenwürde des minderjährigen Opfers.

Kodex

Ziffer 1 – Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde

Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Jede in der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien.

Ziffer 2 – Sorgfalt

Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen. Symbolfotos müssen als solche kenntlich sein oder erkennbar gemacht werden.

Autorin

Sonja Volkmann-Schluck ist Journalistin und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit.



E-Mail: volkmann-schluck@presserat.de

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