Der Nahe Osten im Lokalen
von drehscheibe-Redaktion
Massaker und Krieg in Nahost, Solidaritätskundgebungen und antisemitische Vorfälle hierzulande: Lokalzeitungen sind anhand weltpolitischer Ereignisse gefordert. Vier Beispiele, wie Redaktionen damit umgehen.
Mindener Tageblatt
Wir hatten in der Folge des Terrorangriffs auf Israel mit einer besonders herausfordernden Situation im Lokalen zu tun. Eine SPD-Kreistagsabgeordnete und Vorsitzende des Mindener Integrationsrats hatte sich direkt nach dem Angriff judenfeindlich geäußert. Sie teilte am nächsten Tag eine Story auf Facebook, in der eine jubelnde Menschenmenge zu sehen ist. Darunter stand auf Arabisch: „Welch schöner Morgen. Der 7. Oktober wird zu einem besonderen Datum.“ In einem anderen Post zeigte sie einen palästinensischen Staat anstelle des israelischen, darunter das Schlagwort „Vom Fluss bis ans Meer“. Wir bekamen Screenshots zugespielt und berichteten. Die Betroffene selbst wollte sich zunächst nicht äußern.
Die SPD reagierte in einer ersten Reaktion unklar. Der Landrat sprach von einer „Privatsache“, der SPD-Kreisgeschäftsführer gar davon, dass es „einer Verleumdung“ nahekomme, Antisemitismus zu unterstellen. Die Öffentlichkeit reagierte hingegen empört, sodass die Kommunalpolitikerin schließlich doch Stellung nehmen musste. Sie trat ein paar Tage später als Vorsitzende des Integrationsrats zurück, blieb aber Kreistagsmitglied. Die Diskussionen dauern in der lokalen Öffentlichkeit und Politik bis heute an – Ausgang offen. Was die Debatten so besonders herausfordernd gemacht hat: Die Betroffene gilt als Gallionsfigur der Integration und Brückenbauerin zwischen den Kulturen. Die Auseinandersetzung zeigte die ganze gesellschaftliche Sprengkraft, die dieses Thema hat. Damit umzugehen, erfordert einen besonders verlässlichen Wertekompass. Ohne den ist die Verirrung in diesem Durcheinander nahe.
Benjamin Piel, Chefredakteur des Mindener Tageblatts
Westfalenpost
Der brutale Überfall der Hamas auf Israel ist für uns auch regional und lokal bedeutsam. Der Nahost-Konflikt und vor allem der Antisemitismus sind Themen, mit denen wir uns bereits länger journalistisch befassen. In Hagen – dort hat die Westfalenpost ihren Hauptsitz – gibt es eine jüdische Gemeinde. Anfang 2022 wurde ein junger Syrer zu einer 21-monatigen Bewährungsstrafe verurteilt, weil er einen Anschlag auf die Synagoge geplant hatte. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte sich die Stadt Hagen aus Sicherheitsgründen entschlossen, die israelische Flagge am Rathaus abzuhängen. Hintergrund war damals der Wunsch, symbolisch an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland zu erinnern. Die Polizei registrierte daraufhin Drohungen. Hagen ist eine Stadt, in der über 40 Prozent der Bürgerinnen und Bürger eine Migrationsgeschichte haben. Viele sind muslimischen Glaubens.
Wir haben eine vertrauensvolle Verbindung zum Leiter der jüdischen Gemeinde. Über diese Verbindung entstand nach dem 6. Oktober ein Kontakt zur Schwester einer Hamas-Geisel. Das Video-Gespräch mit Sasha Ariev in Jerusalem war sehr berührend. Das große Stück meines Kollegen Jan Reinold erreichte in der Digitalversion und im E-Paper hohe Lesequoten.
Schon Monate vor dem 6. Oktober hatte ich versucht, in einer Arbeitsgruppe aus den Bereichen Kultur, Wissenschaft, Verwaltung, Jüdischer Gemeinde, Schule und Sozialarbeit ein Projekt zu entwickeln, bei dem wir junge Menschen mit ihren unterschiedlichen Lebensperspektiven und Religionen ins Gespräch bringen. Daraus wird nun voraussichtlich eine Kooperation mit einer oder mehreren Schulen erwachsen. Das Konzept steht noch nicht endgültig. Inhaltlich geht es darum, verschiedene Wahrheiten und Perspektiven zuzulassen und Begegnung zu ermöglichen. Das halten wir journalistisch für eine sehr wichtige Aufgabe. Nur durch Begegnung verändert sich der oftmals verstellte Blick auf andere Menschen. Diese Durchlässigkeit braucht unsere Gesellschaft gerade sehr dringend.
Jost Lübben, Chefredakteur der Westfalenpost
Kölner Stadt-Anzeiger
Die Redaktion des Kölner Stadt-Anzeigers hat in diesem Jahr zum 9. November anlässlich des 85-jährigen Gedenkens an die Novemberpogrome 1938 eine Schwerpunkt-Ausgabe aus Solidarität mit den Jüdinnen und Juden in Köln und auf der ganzen Welt gemacht. Angeregt dazu haben uns nicht nur die vielen einseitigen pro-palästinensischen Demonstrationen und die Zunahme antisemitischer Straftaten in ganz Deutschland, sondern auch die – von uns zuvor aufgeschriebene – Geschichte eines Paares aus Köln, das sich eine Israel-Fahne ans Haus gehängt hatte, um Solidarität mit Jüdinnen und Juden zu zeigen. Von der Hausverwaltung wurde das Paar aufgefordert, die Fahne abzuhängen. Die Begründung irritierte die beiden Kölner zu Recht: Sorge vor Vandalismus. Ein Schlag gegen Zivilcourage.
Die Redaktion reagierte darauf mit einer speziell gestalteten Seite innerhalb der Solidaritäts-Ausgabe, die sich ins Fenster hängen oder auf einer der hoffentlich noch vielen pro-israelischen Solidaritäts-Demonstrationen hochhalten lässt. Der Kommentar der Redaktion dazu: „In Köln sollten noch viel mehr sichtbare Zeichen angebracht werden. Kein Veedel für Rassismus, was für eine gute und wichtige Aktion! Kein Veedel für Antisemitismus: Das ist jetzt das Gebot der Stunde.“ Eine hochbetagte Holocaust-Überlebende erinnerte sich in unserer Ausgabe an die Nacht des 9. November in Köln. Außerdem baten wir den prominenten Kölner Politologen Claus Leggewie, die komplexe Lage im Nahen Osten für die Leserinnen und Leser zu analysieren und dabei aufzuklären über legitime Israel-Kritik und Antisemitismus. Die Reaktionen auf die gedruckte Ausgabe waren fast ausschließlich sehr positiv, wir bekamen viel Dank zugesprochen. Lediglich in den Sozialen Nerzwerken wurden die Beiträge sehr kontrovers diskutiert – eine Erfahrung, die wir dort aber grundsätzlich in Bezug auf die Berichterstattung über den Nahen Osten seit dem 7. Oktober machen.
Sarah Brasack, stellvertretende Chefredakteurin des Kölner Stadt-Anzeigers
Nürnberger Nachrichten
Ist der Nahost-Konflikt ein Thema für Regionalmedien? Nicht immer, lautet meine ehrliche Antwort mit Blick auf das Geschehen in den vergangenen Jahren. Unser Medienhaus hat nicht über jede Verästelung dieser komplexen und verworrenen Auseinandersetzung berichtet. Das hat sich verändert, weshalb meine Antwort neuerdings lautet: Unbedingt – seit dem 7. Oktober 2023 müssen wir darüber berichten. Denn der brutale Terrorangriff der Hamas auf Israel hat eine neue Dimension der Gewalt eingeleitet. Darüber müssen Medien berichten!
Und, das zeigt sich immer deutlicher, dieser Konflikt beschränkt sich nicht auf den Nahen Osten, längst hat er uns erreicht. Für uns in den Redaktionen des Verlags Nürnberger Presse bedeutet dies, sehr genau auf die in Nürnberg und Umgebung lebenden Jüdinnen und Juden zu blicken. Wie geht es den Betroffenen, die in den meisten Fällen bangen Blickes auf ihre Familienangehörigen in Israel schauen?
Sehr frühzeitig haben die Nürnberger Nachrichten aus ihrer Haltung keinen Hehl gemacht. Das Existenzrecht Israels steht für uns außer Frage. Und dass wir engen Kontakt zur Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) in Nürnberg haben, hat Tradition. Wir haben in Kooperation mit dem Staatstheater Nürnberg sehr kurzfristig eine Sonntagsmatinee im Opernhaus veranstaltet – mit Vertretern der IKG, einem Iman und einem Völkerrechtler. Ein weiteres Format unter anderem mit dem bayerischen Ministerpräsidenten ist in Kürze geplant.
Kurzum: Wir spüren den Diskussions- und Aufklärungsbedarf und wollen diesem gerecht werden. Auch wenn unsere klare Haltung nicht allen Leserinnen und Lesern gefällt, bleiben wir bei unserer Linie – denn am Anfang dieser jüngsten Eskalation standen brutale, menschenverachtende Morde und Gewalttaten.
Michael Husarek, Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten
Bericht über das Sonntagsmatinee in den Nürnberger Nachrichten
Zusammengestellt von Stefan Wirner
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