„Beim Thema Erster Weltkrieg gerät das Lokale immer mehr in den Blick“
von Sascha Lübbe
Anlässlich des 100. Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs veröffentlicht die Frankfurter Allgemeine Zeitung künstlerische und literarische Dokumente aus der Zeit von 1914 bis 1918, aber auch Auszüge aus Tagebüchern, Frontzeitungen und sogenannten Schutzbriefen für Soldaten. Konrad Jäger, Redakteur im Feuilleton der FAZ, koordiniert die Serie. Die drehscheibe sprach mit ihm darüber, woher das Material stammt und welche lokalen Bezüge das Thema hat. Mit dem Interview wollen wir Sie bereits jetzt auf die drehscheibe-Themenausgabe zum Ersten Weltkrieg aufmerksam machen, die am 1. Februar erscheint.
Herr Jäger, was ist das Besondere an der Auseinandersetzung mit künstlerischen Dokumenten aus der Zeit? Was können sie vermitteln, das Fotos und sonstige Zeitdokumente nicht vermitteln können?
Künstler, Dichter und Schriftsteller bieten gewissermaßen die überraschendere Perspektive. Es ist interessant, zu lesen, wie Rilke, Ringelnatz, Tucholsky oder Benn den Krieg wahrgenommen haben. Das liegt uns im Feuilleton natürlich auch näher. Ich möchte die anderen Quellen aber nicht abwerten. Vieles von dem, was wir vorstellen, ist nicht künstlerisch.
Was stellen Sie noch vor?
Alles Mögliche. Tagebücher von Großvätern, Kochrezepte aus der Hungerzeit ab 1916/1917, Plakate von Backverboten aus den besetzen Gebieten. Wir bringen sogenannte Frontzeitungen, die ein recht ungeschminktes Bild der Front lieferten. Und wir bringen abergläubische Sachen. Sogenannte Schutzbriefe für Soldaten zum Beispiel, religiöse Texte, bis hin zu Bastelarbeiten aus den Schützengräben wie Talismane und Amulette, die angeblich kugelsicher machten. Wir haben auch sehr viel Material über die Frauen, die in den Lazaretten eingesetzt waren, und über die Kriegsverletzten.
Welche Überlegungen standen hinter der Auswahl?
Wir haben uns gefragt, was heute noch interessant ist. Das sind zum einen Sachbücher wie das von Christopher Clark: „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. Zum anderen sind das aber auch unbekannte und zum Teil bizarre Dokumente, die das Alltagsleben der damaligen Zeit wiedergeben, sowohl der Soldaten, als auch der Zivilbevölkerung. Wichtig war für uns, dass die Dokumente visuell etwas hermachen.
Woher stammen die Dokumente?
Bisher vor allem aus dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach und aus der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Seit wir mit der Serie angefangen haben, bekomme ich aber jeden Tag auch zwei bis drei Eisendungen von Lesern zu dem Thema, die ich erst noch sichten muss. Teilweise sind das dicke Konvolute, die die Leute von anderen Quellen abgeschrieben haben. Vielfalt ist also garantiert.
Wie viele Episoden wird es geben?
Etwa 40 bis 45. Erscheinen werden sie ein- bis zweimal die Woche. Die Serie hat einen lockeren chronologischen Verlauf, der nicht zwingend ist. Wir hören auf mit dem Plakat, das der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer am 6. November 1918 anschlagen ließ, auf dem die Bürger zum Bewahren der Ruhe aufgerufen wurden. Aber auch unabhängig von der Serie wird es im Feuilleton der FAZ Berichte und Essays zum Ersten Weltkrieg geben.
Welche Rolle spielen Lokalzeitungen in der Aufarbeitung des Krieges?
Wenn man sich die Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg ansieht, fällt auf, dass es eine starke regionale Tendenz gibt. Es gibt zum Beispiel Ausstellungen zu Bayerischen Regimentern oder zur Pfalz im Krieg. Das ist neu. Wenn man vor 20 oder 30 Jahren über den Ersten Weltkrieg geschrieben hat, dann waren das Überlegungen zur Schuld oder Nichtschuld. Das hat sich verändert. In dem Maß, in dem man auf die Lebens- und Sterbenswelt dieser Zeit eingeht, gerät das Lokale immer mehr in den Blick. Da gibt es noch viele Schätze zu entdecken.
Interview: Sascha Lübbe
drehscheibeTipp: Welche Künstler oder Schriftsteller der Region haben sich seinerzeit in ihren Werken mit dem Kriegsausbruch befasst? Standen sie kritisch zum Krieg oder unterstützten sie die Propaganda? Recherche in regionalen Archiven.
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