„Das Blatt völlig einzustellen, kam nicht infrage"
von Stefan Wirner
Es ist ein Experiment, dessen Ausgang mit Spannung zu verfolgen sein wird: Am 30. Juni erschien der Vlothoer Anzeiger zum letzten Mal als gedruckte Tageszeitung. Seither können die Leser Lokalnachrichten aus Vlotho und Umgebung zum einen auf der Online-Plattform des Blattes nachlesen. Zum anderen erscheint ein Mal in der Woche ein kostenloses Printprodukt, das an gut 15.000 Haushalte der Region verteilt wird. Auch diese Ausgabe ist online verfügbar – als E-Magazin und in einer Mobil-Ausgabe für Smartphones. Über die Chancen dieses neuen crossmedialen Geschäftsmodells sprach die drehscheibe mit Christoph Pepper, Chefredakteur des Mindener Tageblatts, zu dem der Vlothoer Anzeiger gehört.
Herr Pepper, was waren die Gründe für die Einstellung der Tageszeitung Vlothoer Anzeiger?
Letzten Endes waren es wirtschaftliche Gründe. Die Auflage von zuletzt etwas mehr als 1.500 Exemplaren hat für die Tageszeitung keine wirtschaftliche Perspektive mehr erkennen lassen. Zudem war nach all den entsprechenden redaktionellen und vertrieblichen Anstrengungen der letzten Jahre absehbar, dass wir diese Auflage nicht nennenswert weiter steigern können würden. Deshalb standen wir vor der Frage, was wir tun können. Das Blatt wie bisher weiterzuführen, war wegen der damit zusammenhängenden Verluste keine Option. Es völlig einzustellen, kam aber auch nicht infrage – auch aus Verantwortung gegenüber dem Verbreitungsgebiet und gegenüber den Mitarbeitern. Also haben wir beschlossen, etwas anderes zu versuchen, ein Experiment. Wir wollen die lokale Berichterstattung fortsetzen und auf eine neue wirtschaftliche Basis stellen.
Warum ließ sich die Auflage nicht entscheidend steigern? Gab es dafür strukturelle Gründe vor Ort?
Ja, es hat aber sicherlich mehrere Ursachen. Dazu zählt etwa auch die spezielle Preissituation, die wir hier haben. Ein Monatsabo des Vlothoer Anzeigers hat zuletzt 11 Euro 30 gekostet. Für den gleichen Preis war der Wettbewerber zu haben. Wir bewegen uns seit dem Jahr 2004 in diesem Markt. Damals fingen wir mit einem Vertriebspreis von fünf Euro für eine zweimal in der Woche erscheinende Ausgabe des Vlothoer Anzeigers an. Als wir auf Tageszeitung umstellten, mussten wir uns am Preis des Wettbewerbers orientieren, der damals um die neun Euro lag. Wir haben in Vlotho immer wieder extrem sensible Reaktionen auf Versuche erhalten, die Preise zu verändern. Da war irgendwann klar, dass es keine Möglichkeit gab, zu einem auskömmlichen Abopreis zu kommen.
Wie sieht das Experiment, das Sie jetzt wagen, genau aus?
Die Grundidee besteht darin, die vorhandene seriöse und allseits geschätzte Lokalberichterstattung fortzuführen, noch aktueller als vorher, da wir ja jetzt online ein Rund-um-die-Uhr-Medium zur Verfügung haben. Das wollen wir kombinieren mit einer wöchentlich erscheinenden gedruckten Ausgabe, die sich ausschließlich auf lokale Themen konzentriert, ergänzt durch ein paar Service- und Unterhaltungsthemen. Die überregionalen Themen, Politik, Wirtschaft, Sport und Vermischtes handeln wir ausschließlich online ab – unter den heute üblichen Bedingungen der Tagesaktualität.
Die Onlineseite wird aber auch mit lokalen Nachrichten bestückt?
Ja, hier gibt es täglich neue Lokalnachrichten zu lesen – über den Unfall genauso wie über die Ratssitzung. Selbstrecherchierte eigene Geschichten machen in Vlotho einen großen Teil der Berichterstattung aus. Das wird tagesaktuell veröffentlicht, teilweise also eher als früher als in Print.
Fasst die wöchentlich erscheinende Zeitung die lokalen Nachrichten der Woche zusammen?
Das ist der Plan. Die wichtigsten und interessantesten Geschichten der Woche werden noch einmal für Print aufbereitet und um weitere Angeboten ergänzt.
Besteht da nicht die Gefahr, dass viele Leute diese Lokalnachrichten bereits online gelesen haben?
Die Gefahr besteht. Aber wir wissen, dass ein erheblicher Teil der Leserschaft diese Nachrichten auf Papier lesen will. Wir gehen auch nicht davon aus, dass wir alle unsere Leser über das Internet erreichen. Da muss man sich ja nur einmal die einschlägigen Verbreitungszahlen ansehen. Es sind noch immer viele Menschen eben nicht im Internet unterwegs. Diese wollen wir auch ansprechen. Wir versuchen in beiden Medien die Möglichkeiten optimal zu nutzen: im Internet schnelle Aktionen und Interaktivität wie Kommentarmöglichkeiten, Bildergalerien, im gedruckten Blatt ansprechende Gestaltungen usw. Wir glauben schon, dass das gedruckte Produkt wegen seiner Haptik und seines Charakters auf Interesse stößt, auch wenn die eine oder andere Geschichte manchem Leser vielleicht schon bekannt ist.
Die wöchentlich verteilte Zeitung ist kostenlos. Wie finanzieren Sie das?
Wir hoffen, es über die Anzeigen zu finanzieren. Wir wollen mit dem Produkt sämtliche Haushalte in Vlotho und Kalletal bedienen, wir erweitern also das Gebiet der Berichterstattung. Von daher entsteht ein Werbeträger, der eine größere Reichweite hat als die vorherige Tageszeitung. Wir sind jetzt bei einer Auflage von gut 15.000 Exemplaren im Vergleich zu vorher 1.500. Das ist ein Unterschied. Und durch die Qualität des Produktes werden sich hier auch Kunden wiederfinden wollen, die in einem klassischen Anzeigenblatt nicht inserieren würden.
Mussten Sie die Redaktion verkleinern?
Nein, die Redaktion ist nach Minden umgezogen, wo sie jetzt – auch aus Synergiegründen – im „Mutterhaus“ arbeitet. Das ist nur 20 Minuten von Vlotho entfernt. Einer von zwei Sportkollegen wird nächstes Jahr in den Ruhestand gehen, das ist alles.
Wie viele Redakteure arbeiteten beim Vlothoer Anzeiger?
Vier Redakteure und ein Volontär.
Wie haben sich die Arbeitsabläufe in der Redaktion verändert?
Das probieren wir jetzt gerade erst aus. Wir kommen weg von der Arbeitsweise, die auf den abendlichen Produktionsschluss fixiert ist, hin zu einer Arbeitsweise, bei der über den Tag hin produziert wird und die daneben auch die Produktion einer Wochenzeitung im Auge behalten muss. Aber noch ist das Neuland für uns.
Warum haben Sie eine Plattform für Bürger- und Leserreporter eingeführt?
Auch das ist ein Experiment. Im Verbreitungsgebiet des Mindener Tageblattes haben wir damit schon vor einem Jahr begonnen. Wir haben Parteien, Institutionen, Vereinen, aber auch Einzelpersonen die Möglichkeit gegeben, selbst Texte zu publizieren. Die Erfahrung, die wir in Minden gemacht haben, war ermutigend, aber das Ganze ist ausbaufähig. Es ist ein Instrument, das erst erprobt werden muss. Die Zielgruppe muss das auch erst einmal zur Kenntnis nehmen. Aber wir verzeichnen eine steigende Nutzung. Und das hat uns ermutigt, es auch im deutlich kleineren Verbreitungsgebiet Vlotho zu probieren. Wir verstehen uns als Lokalzeitung ja auch als Plattform für den Austausch lokaler Information. Was die Lokalzeitung übrigens auch schon immer war: eine Drehscheibe für die Information Dritter an die Leser. Und das wollen wir mit diesem Instrument verstärken.
Mittel- bis langfristig wollen Sie für bestimmte Teile des Online-Inhalts Gebühren erheben. Für welche?
Das ist eine Diskussion, die wir im Moment wie alle deutschen Zeitungsverlage führen. Es gibt aber noch keine konkreten Beschlüsse. Wenn es Gebühren gibt, dann für die Inhalte, die wir exklusiv haben, also für die selbst recherchierten lokalen Informationen. Aber das ist ein Thema für die fernere Zukunft.
Glauben Sie, dass Ihr Konzept ein Modell dafür ist, wie die Zukunft des Lokalen aussehen könnte?
Für uns ist dieses Konzept aus der speziellen Situation in Vlotho erwachsen. Es handelt sich um ein Experiment, und wir werden sehen, ob es funktioniert. Auf mittlere Sicht sehe ich in der Lokalberichterstattung grundsätzlich ein noch stärkeres Zusammenwachsen von Online und Print. Wie die Verteilung eines Tages ausfallen wird, kann ich nicht vorhersagen. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass die gedruckte Zeitung nicht verschwinden wird. Insofern sind wir ein kleines Mosaiksteinchen auf einem langen Weg, auf dem ausprobiert wird, wie das Verhältnis von Print und Online eines Tages sein wird.
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