„Das Dazwischen scheint langweilig“
von Stefan Wirner
Rachele De Caro ist Verlegerin in dem kleinen Ort Einsiedeln in der Schweiz. In einem Essay in der Neuen Zürcher Zeitung beklagt sie, dass in den Medien die Stimme der ländlichen Bevölkerung zu verstummen droht.
Frau De Caro, welche Beobachtungen haben Sie gemacht, was die Berichterstattung über das ländliche Leben betrifft?
Meines Erachtens hat sich gerade während der Pandemie gezeigt, dass die ländliche Perspektive nicht zu Wort kam. Ich habe mich gefragt, ob man in den Redaktionen nicht versteht, was die Leute auf dem Land umtreibt, oder ob sie es nicht verstehen wollen, weil sie sich in einer ganz anderen Lebensrealität befinden. Und mein Gedanke war: Sie können es nicht verstehen. Denn andersherum wäre es ja genauso: Wenn ich alles aus ländlicher Sicht beschreiben würde, käme die städtische Perspektive zu kurz. Dass das Verständnis für das ländliche Leben nicht vorhanden war, hat mit dazu geführt, dass sich die Fronten so verhärtet haben. Also schreibe ich nun hin und wieder einen Beitrag für Zeitungen mit mehr Reichweite, wie etwa für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), um dieser Stimme Gehör zu verschaffen. Wir haben zwar hier in unserem Ort, der rund 10.000 Einwohner hat, eine Zeitung, den Einsiedler Anzeiger, aber den lesen wenige außerhalb des Ortes.
Was wäre denn in der Pandemie ein Beispiel für die ländliche Perspektive gewesen?
Generell ist es doch so, dass jemand, der täglich in vollgequetschte Trams und Züge steigen muss und sich dann in ein Großraumbüro begibt, eine ganz andere Lebensrealität hat als jemand, der am Morgen seine Arbeitsmontur anzieht und in den Stall geht, zugespitzt formuliert. Letzterer hat kaum Kontakt mit anderen Menschen, er verstand die große Angst, die in den Städten während der Pandemie herrschte, wohl kaum. Auf der anderen Seite verstehen die Menschen in den großen Zentren wohl auch die Lebensumstände auf dem Land nicht so gut, weil sie nicht täglich damit konfrontiert sind. Sie haben die Reaktionen der Menschen dort als fahrlässig abgetan. Hier hätten Journalistinnen und Journalisten Abhilfe schaffen können, indem sie aus beiden Perspektiven berichtet und damit gegenseitiges Verständnis geschaffen hätten. Ich habe zum Beispiel ein Buch gemacht unter dem Titel „Das Dazwischen“, da kommen sechs Persönlichkeiten vor, die ihre Stimme in Zeiten der Pandemie und der Polarisierung für Zwischentöne einsetzten. Alle von ihnen haben darauf hingewiesen, was für ein wichtiger Player die Medien sind und welche große Rolle sie spielen. Und vielen haben gerade die Zwischentöne gefehlt. Die Aufgabe, diese Zwischentöne darzustellen, sollten die Medien wieder übernehmen.
Welche Probleme entstehen, wenn die ländliche Stimme zu wenig zu Wort kommt?
Es werden einfach gewisse Fragestellungen, die die ländliche Bevölkerung beschäftigen, in den großen Medien nicht behandelt. Und die Menschen auf dem Land fragen sich: Gibt es meine Stimme überhaupt? Bin ich alleine mit meinen Gedanken? Darunter leidet das gegenseitige Verständnis. Die Medien hätten die Chance, gesellschaftsdienlich zu wirken, für Austausch zu sorgen und den Diskurs zu fördern, vor allem in Krisen. Das geht aber nur, wenn sie alle Perspektiven zu Wort kommen lassen. Das passiert meines Erachtens zu wenig.
Sie sagen, dass Journalistinnen und Journalisten gewisse Ansichten übers Land ständig wiederholen würden. Welche Bilder werden da reproduziert?
Das Land wird von Autoren aus der Stadt meist dargestellt als engstirnig, konservativ, reaktionär. Politisch wird es meist eher als rechts verortet. Viele Texte beschreiben ein düsteres Bild. In den Magazinen der großen Zeitungen oder in der „Republik“, einem Online-Magazin aus Zürich, das für qualitativ hochwertigen Journalismus einstehen will, herrscht durch und durch dieser städtische Blick, und das Bild vom Land ist sehr negativ gefärbt. Ich hingegen habe selbst ein absolut positives Bild vom Land, ich finde es angenehm und familiär. So etwas kommt aber nirgends vor.
Wie könnte sich das ändern?
Es ändert sich ja ständig etwas. Ich habe zum Beispiel vor ein paar Jahren ein Buch gemacht über junge Macherinnen. Ich hatte damals den Eindruck, dass in den Medien viel zu wenige weibliche Vorbilder vorkommen. Also habe ich Interviews geführt mit jungen Frauen, um sie in diesem Buch als positive Vorbilder vorzustellen. Inzwischen hat sich da in den Medien viel geändert. Es gibt mehr Frauen, die schreiben, es kommen auch mehr unterschiedliche Nationalitäten zu Wort, es gibt mehr Schreibende mit Migrationshintergrund etc. Nur Schreibende vom Land kommen nicht oder kaum vor. Aber das wäre doch auch Diversität! Die Tageszeitungen sollten viel mehr Menschen vom Land einladen, Texte zu verfassen, Meinungen zu äußern. Redaktionen sollten sich intensiv um diese ländliche Perspektive bemühen.
Es gibt ja andererseits auch eine große Sehnsucht nach Landleben. Vielen Menschen ist es in den Metropolen zu eng, zu hektisch, zu teuer.
Ja, es gibt diese Sehnsucht nach Natur. Aber das ist natürlich auch eine gewisse Romantisierung. Die Menschen auf dem Land werden dann trotzdem als konservativ wahrgenommen. Dabei sind die Übergänge fließend, und wenn man ins Gespräch kommen würde, könnte man mehr wahrnehmen als nur die Extreme. Aber die Medien interessieren sich mehr für die Extreme, das Dazwischen scheint langweilig.
Sehen Sie diese Tendenz auch in Deutschland?
Ich verfolge die deutschen Medien natürlich nicht tagtäglich und kann daher nur sagen, was ich von der Schweiz aus wahrnehme. Und da scheint es mir schon auch so zu sein, dass es diese zwei Seiten gibt und dass nicht mit sehr viel Wohlwollen aufeinander geblickt wird. Die großen Medienhäuser haben in Deutschland mit großen Herausforderungen zu kämpfen, oft werden ländliche Redaktionen geschlossen und es wird von den Städten aus berichtet. So geht die ländliche Stimme verloren.
Es könnte ja eine self-fulfilling prophecy sein: Wenn die Leute auf dem Land immer auf eine negative Art dargestellt werden, wenden Sie sich eben auch irgendwann ab.
Das kann durchaus sein. Oder sie wenden sich denen zu, die sie anhören und ihnen respektvoll gegenüberstehen. Das gilt nicht nur hinsichtlich Medien, sondern auch hinsichtlich der Politik. Damit die gänzliche Abkehr nicht passiert, gilt es, aus verschiedenen Perspektiven und in einem respektvollen Ton zu berichten.
Interview: Stefan Wirner
Links
Hier geht es zur Édition De Caro.
Hier geht es zum Essay von Rachele De Caro in der NZZ
Das Interview erschien zuerst in der Ausgabe 13/2023 der drehscheibe.
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