Das Tor zur Welt
von Clemens Niedenthal
Sport als Religions- oder Familienersatz? Davon hält der Sportjournalist Marcel Reif wenig. Für ihn ist Sport ganz einfach Unterhaltung – in ihrer besten Form.
Herr Reif, Fußball, so hat es der Philosoph Klaus Theweleit einmal formuliert, sei so etwas wie das „Tor zur Welt“. Wie hat das der junge Marcel Reif in seiner Kindheit erfahren?
Genau so. Mein Vater hat mich in guten Jahren alle 14 Tage mit ins Stadion genommen und in der Zeit dazwischen haben wir das dort Erlebte oder besser das dort Imaginierte nachgespielt. Man war dann eben beispielsweise Fritz Walter. Der Verein war die Welt. Nun hatte ich das Privileg, in der Pfalz aufzuwachsen, wo es vielleicht wenig gab, aber eben den 1. FC Kaiserslautern. Vermutlich hätte ich aber als Fan eines Amateurclubs in einer anderen deutschen Provinz ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich hatte damals definitiv das Gefühl, Fußball definiert dieses Kaff, er prägte die Identität eines ganzen Ortes.
Andreas Rettig, Sportdirektor von St. Pauli, hat unlängst gesagt: Früher wurden die Kinder Fans ihres Heimatvereins, heute von Lionel Messi.
Und er hat absolut Recht damit, wobei ich damit keine Nostalgie und erst recht keinen Vorwurf verbinde. Kinder und überhaupt Menschen identifizieren sich mit der Welt, die sie kennen. Mein Vater hat mich mit zum Fußball genommen, ich muss meine Söhne nicht mehr zum Fußball mitnehmen, die gucken sich alles auf ihrem Tablet, ihrem iPhone, ihren digitalen Endgeräten an. Wenn sie über Basketball reden – Basketball steht gerade hoch im Kurs –, dann geht es um die Los Angeles Lakers und die New York Knicks und nicht um Bamberg oder Bremerhaven. Die sitzen mit roten Augen beim Frühstück und erzählen, wer nachts um vier Uhr mitteleuropäischer Zeit spektakuläre Dunks gemacht hat.
Aber zerstört diese permanente, globale Verfügbarkeit der Sportberichterstattung nicht auch die Einmaligkeit des Moments?
Da bin ich ganz bei Ihnen. Vor ein paar Wochen hat Angelique Kerber Wimbledon gewonnen, und wissen Sie was? Ich kann mich an keinen einzigen Ballwechsel mehr erinnern. Spiele von Becker, Lendl, Graf habe ich noch direkt vor Augen. Sport hat sich diversifiziert. Früher gab es Fußball, im Norden noch Handball, im Süden Wintersport. Heute gilt ein Marathonlauf als Grundbedingung einer Manager-Karriere. Aber auch das hat ja etwas mit der medialen Verfügbarkeit zu tun. Der Ironman auf Hawaii hat ja gerade deshalb eine solche Strahlkraft,weil die Leute Bilder davon gesehen haben. Medien machen es möglich, diese Anstrengung als epische Geschichte erlebbar zu machen. Auch wenn das am anderen Ende der Welt passiert.
Andererseits wird ja gerade auch gerne behauptet, dass lokale Strukturen als Reaktion auf diese globalisierte Wahrnehmung wieder wichtiger werden.
Als der Sportverein hier in meinem Wohnort bei Zürich vor ein, zwei Jahren ein großes Jubiläum hatte, wurde ich gefragt, ob ich einen Text für die Vereinschronik schreiben könnte. Klar habe ich das dann auch alles erzählt: die integrative Kraft des Sports, sein identitätsstiftender Faktor und die gesellschaftliche Dimension des Ehrenamts. Der Verein bringt die Menschen zusammen – ob dem wirklich noch so ist? Ich hoffe es zumindest.
Wie interpretieren Sie etwa das journalistische Engagement in Bremen, wo sich zwei Regionalzeitungen, der Weser-Kurier und die Syker Kreiszeitung, in einem täglichen Angebot rund um den örtlichen Fußballbundesligisten überbieten?
Ich möchte mich jetzt nicht schon wieder mit den Fans von Werder Bremen anlegen und darauf verweisen, dass die große Zeit dort ja nun auch schon ein paar Jahre zurückliegt. Ich glaube aber schlicht und ergreifend nicht, dass der sechste oder siebte Artikel an jedem verdammten Werktag irgendeinen Mehrwert liefern kann, ja, dass der Fußball so viel zu erzählen hat.
Entzaubert die übermäßige Berichterstattung am Ende sogar das Spiel?
Ach, dafür sorgt die heutige Generation der Profisportler doch schon selbst mit all ihren Instagram-Posts und Twitter-Nachrichten. Um zu wissen, welche Sneakers sich Boateng gekauft hat, braucht es doch längst keine Journalisten mehr. Ich würde eher umgekehrt sagen: Vielleicht ist da gar nicht so viel, was entzaubert werden könnte. Vielleicht sollten wir uns bei all diesem Überangebot der Nachrichten und vermeintlichen Nachrichten auf die 90 Minuten des Spiels konzentrieren.
Womit wir bei der Debatte um das Foto des Ex-Nationalspielers Mesut Özil mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan angekommen wären.
Ein Junge hat ein Foto gemacht, weil er vermutlich zu dumm war, die Dimension dieser Aufnahme zu begreifen. Klar, dass sich dann eine Alice Weidel auf diese Geschichte stürzt, wenn nicht, hätte sie ihren Job verfehlt. Was mir zu weit ging, war, wie alle Redaktionen, auch und gerade die Sportredaktionen, diese Geschichte überhöht haben. Wir können doch die so grundsätzliche und wichtige Frage, wie und ob in Deutschland Integration gelingen kann, nicht an der dummen Entscheidung eines einzelnen Fußballprofis festmachen. Das wäre eine Überhöhung des Sports, die garantiert keinem dient.
Was halten Sie da für dienlich?
Sport ist einfach die geilste Form der Unterhaltung, aber damit hat es sich dann vielleicht auch. Wir sollten aufhören, ständig vom Religionsersatz oder gar vom Familienersatz zu sprechen. Ich glaube, nein, bin mir sicher, dass sich der Sport und sein Publikum verändert haben.
Da werden jetzt all die Ultras, die Hardcore-Fans widersprechen.
Wegen der verdammten Pyrotechnik, die wir auch deshalb so hassen, weil wir letzten Endes zugeben müssen, dass das irgendwie doch geil ist. In England wurde 2005 der Amateurclub FC United of Manchester gegründet – von Man-United-Fans, denen die Kommerzialisierung des Fußballs zu weit gegangen war. Ich würde wetten, dass zwei Drittel von ihnen heute wieder die Premier-League-Spiele gucken: Jeder weiß heute, wie toll Ronaldo einen Fallrückzieher macht. Und wenn man darum weiß, dann will man das eben auch sehen.
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