Interview

„Der Bundestag ist ein Kanzlerwahlparlament“

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Martin Fehndrich ist eigentlich Physiker. Zusammen mit mehreren Gleichgesinnten betreibt er in seiner Freizeit das Portal Wahlrecht.de. Im drehscheibe-Interview plädiert er für weniger Wahlkreise mit mehr Kandidaten.

Anfang März hat der Bundestag eine Reform des Wahlrechts beschlossen. Die Überhangmandate werden ausgeglichen. Sind Sie zufrieden?

Der wichtigste Punkt ist: Die Stimmen aller Wähler sind jetzt gleich viel wert. Die Sitzzahl wird proportional auf die Parteien verteilt. Insoweit ist es ein Fortschritt, man kann zufrieden sein. Auf der anderen Seite ist es nicht das Gesetz, das man sich gewünscht hat. Es ist nicht einfach lesbar und kompliziert in der Umsetzung.

Inwiefern?

Um das negative Stimmgewicht zu vermeiden, wird zunächst eine Pseudoverteilung durchgeführt. Bevor die Wahl überhaupt beginnt, verteilt man die Sitze auf die Bundesländer anhand der Bevölkerung. Dann in den Ländern anhand der Stimmenzahlen auf die Parteien. Aber das ist keine echte Verteilung, mit dieser Rechnung erhält man nur eine Mindestsitzzahl, die jede Partei bekommen soll. Dann wird die Größe des Bundestags bestimmt. Und zwar so groß, dass jede Partei ihre Mindestzahl bekommt. Erst danach verteilt man die Sitze einer Partei an die Länder.

Sie sagen, die Größe des Bundestags kann theoretisch bis unendlich gehen, wenn eine kleine Partei wie die CSU viele Überhangmandate erhält. Können Sie das erklären?

Das liegt daran, dass es bei der CSU einen relativ großen Hebel gibt, weil sie bundesweit eine Kleinpartei ist. Nehmen wir an, die CSU bekäme fünf Prozent bundesweit und sie bekäme in Bayern ein Überhangmandat. Dann heißt das, damit man wieder Proporz hat, müssten die anderen Parteien 19 Ausgleichsmandate bekommen. Der Bundestag würde sich mit jedem CSU-Überhangmandat um 20 Sitze vergrößern. Eine andere Partei, wo so ein großer Hebel auftreten könnte, wäre die Linke, die im Osten einen Schwerpunkt hat. Das ist die große Gefahr, die da auftreten kann.

Ein Grund für die Verfassungsklage war der Effekt des negativen Stimmgewichts, dass also eine Partei zwar mehr Stimmen, aber weniger Sitze erhält. Ist das nun durch die Reform ausgeschlossen?

Dieser Effekt kann in der Form nicht mehr auftreten. Jedoch ein anderer. Ich habe das Resultat für die Linken bei der Bundestagswahl 2009 in Hamburg mit dem neuen Wahlsystem nachgerechnet. Wenn die Linken in Hamburg 8000 Zweitstimmen mehr bekommen hätten, hätten sie unterm Strich einen Sitz weniger bekommen.

Wie ist das zu erklären?

Zunächst hätte die CDU dadurch in Hamburg einen Sitz verloren, und damit auch bundesweit. Um den Proporz zu wahren, hätte man den Bundestag verkleinern müssen. Anstatt 671 wären es nur 666 Sitze gewesen. Alle Parteien bis auf die Grünen hätten je einen Sitz abgeben müssen. Damit hätte auch die Linke einen Sitz verloren, obwohl sie Stimmen hinzugewonnen hat. Das hat aber eine andere Qualität als das beklagte negative Stimmgewicht, weil in dem Beispiel mehrere Parteien Sitze verlieren.

Was müsste man denn tun, um solche Effekte auszuschließen?

Dann darf es keine Ausgleichsmandate geben. Das ist ein Effekt, der hängt mit Ausgleichsmandaten zusammen, die den Bundestag größer machen. Am Ende kann man von der Rundung, die rauskommt, mehr oder weniger profitieren. Um so etwas zu vermeiden, muss man eine feste Sitzzahl haben, die man verteilt.

Also auch keine Überhangmandate?

Ja genau, auch keine Überhangmandate. Oder man dürfte die Überhangmandate nicht ausgleichen. Das will man ja auch nicht. Das ist etwas, was man nicht so leicht weg bekommt.

Gibt es weitere Grenzbereiche, die Sie kritisch sehen?

Ein anderer Punkt ist die Listenerschöpfung, also wenn eine Partei in einem Bundesland zu wenige Kandidaten aufstellt. Wenn zum Beispiel auf einer Landesliste nur 15 Kandidaten stehen, aber der Partei stehen laut Wahlergebnis 20 Sitze zu, dann fallen fünf Sitze weg. Da kann es für diese Partei besser sein, wenn sie diese Stimmen gar nicht bekommen hätte. Dann wären die Sitze an eine andere Landesliste derselben Partei gegangen. Dieses negative Stimmgewicht kann auch weiterhin auftreten. Man könnte es einfach vermeiden, indem die Listenverbindungen der Landeslisten hier gelten würden.

Das trifft aber nur kleine Parteien?

Eine kleine Partei, die sehr schnell groß wird. Eine schnell wachsende Partei, die bei der Bundestagswahl mitmacht und feststellt, wir haben eine viel zu kleine Liste eingereicht, weil in den letzten Monaten vor der Wahl so viel passsiert ist. Das ist allerdings ein Sonderfall.

Ist ein Bundestag mit 800 oder mehr Sitzen noch im Sinne des Wählers?

Für den Wähler ist wichtig, dass seine Interessen im Bundestag vertreten werden. Ob das besser mit 800 oder 600 Abgeordneten funktioniert, wage ich nicht zu beurteilen.

Sie plädieren für eine grundlegende Reform des Wahlgesetzes. Was wünschen Sie sich?

Dass man sich überhaupt einmal ein bisschen Zeit nimmt für das Wahlrecht. Eine Möglichkeit, über die man nachdenken sollte, wären Mehrmandatswahlkreise. Weniger, dafür größere Wahlkreise. Dort hätte man nicht mehr einen Direktkandidaten, sondern zum Beispiel drei bis fünf, die zur Wahl stehen.

Weniger Wahlkreise, aber mehr Kandidaten - das würde das Prinzip aber nicht verändern.

Der Vorteil ist: Die Gefahr von Überhangmandaten reduziert sich stark, wenn die Wahl im Wahlkreis ein Proporz im Kleinen ist. Außerdem gäbe es im Vergleich zum bisherigen Wahlrecht eine bessere Möglichkeit der Personalisierung.

Wie sehen Sie die Fünf-Prozent-Hürde?

Die Parteien im Bundestag sagen, das brauchen wir. Weil es ihre eigene Existenz sichert und Aufsplittung verhindert. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass das gerechtfertigt ist. Vereinfach gesagt ist der Bundestag ein Kanzlerwahlparlament. Um eine Regierung und den Kanzler zu wählen, ist es gut, wenn man stabile Mehrheiten hat. Die Argumentation funktioniert bei der Bundes- und Landtagswahl. Bei Kommunalwahlen und der Europawahl hat man das abgeschafft.

Was treibt Sie an, sich als Privatmann so intensiv in diese Thematik einzuarbeiten?

Nach der Bundestagswahl 1994 gab es Überhangmandate, da wollte ich mal wissen, wie funktioniert das? Ich habe mir die Zahlen besorgt und nachgerechnet. Dabei habe ich festgestellt, wenn die SPD in Bremen mehr Stimmen bekommen hätte, hätte sie einen Sitz weniger. Das kann ja eigentlich nicht sein. Die Fakten habe ich auf einer Internetseite zusammengestellt. Mit der Zeit kamen andere Kollegen und immer mehr Informationen dazu. So ist die Seite Wahlrecht.de entstanden.

Interview: Robert Domes

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Dr. Martin Fehndrich, Jahrgang 1968, ist Physiker. Er betreibt zusammen mit mehreren Gleichgesinnten in seiner Freizeit das Portal www.wahlrecht.de.

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