„Die Deutschen neigen dazu, erst das Problem zu sehen“
von drehscheibe-Redaktion
Helge Matthiesen ist Chefredakteur des General-Anzeigers (Bonn).
Warum es auch gute Nachrichten braucht und die eigene Stadt nicht der einzige Maßstab sein kann. Ein Gespräch mit Helge Matthiesen, Chefredakteur des General-Anzeigers (Bonn).
Herr Matthiesen, Sie haben in Ihrer Ausgabe vom 24. Dezember 2015 bewusst gute Nachrichten platziert. Haben Sie die Geschichten extra geschrieben oder „lagen sie auf der Straße“?
Die lagen auf der Straße. Unsere Idee war: Wir bringen auf jeder Seite mindestens eine gute Nachricht, ohne dabei inflationär zu werden. Es ging uns nicht darum, die Leser einzuseifen. Es sollten realistische, richtige Nachrichten sein. Nur haben wir bewusst darauf geachtet, wo sich ein positiver Dreh finden lässt – wir wollten zeigen, dass es manchmal nur darauf ankommt, wie man in die Welt schaut.
Wenn es nicht schwer war, die guten Nachrichten zu finden, warum gibt es dann eine Fixierung der Medien auf das Negative?
Ist das eigentlich so? Es gibt ja eine andere Sichtweise, die besagt, dass im Lokalen grundsätzlich beschönigt wird. Das könnte dem entgegengehalten werden und die Wahrheit liegt dann irgendwo in der Mitte. Fakt ist: Weder eine einseitig negative noch eine einseitig positive Sicht geht. Man muss sich um die Nuancen, die Grautöne bemühen. Gerade im Lokaljournalismus kommt es darauf an, die Entwicklungen in einer Stadt, einer Region konstruktiv zu begleiten. Und dann ist schlecht eben schlecht und gut ist gut. Aber wir fangen erst einmal bei den Fakten an.
Ist die Nähe des Lokaljournalismus ein Vor- oder ein Nachteil?
Teils, teils. Die Nähe kann bedeuten, dass man die Sachen besser beurteilen kann, weil man bestimmte Verhältnisse besser kennt. Aber sie kann ebenso den Blick verstellen. Man braucht einen Maßstab und dieser kann nicht nur die eigene Stadt sein. Es gibt Lokalredaktionen, bei denen man den Eindruck hat, dass alles, was in dem Ort passiert, immer ganz wunderbar ist. Das ist natürlich keine realistische Einschätzung. Ein Blick über den Tellerrand ist sehr wichtig, weil dieser auch dabei hilft, sich den eigenen Standort bewusst zu machen. Guter Lokaljournalismus sollte stets beachten, was auf einer übergeordneten Ebene passiert. Das Problem, das eine Kleinstadt auf eine Art löst, kann in der Nachbarstadt vielleicht noch intelligenter gelöst worden sein. Man sollte immer differenzieren. Dazu gehört auch kritische Distanz. Nur darf diese nicht zu Scheuklappen führen.
Nun ist laut der Bewegung, die für „Constructive News“ wirbt, der vermeintliche Negativismus in den Medien nicht nur schlecht für die Menschen, sondern sorgt auch für eine sinkende Auflage. Glauben Sie das?
Nein. Manche Journalisten lieben ja Kochrezepte. Ich glaube aber, dass es eine Redaktion nicht weiterbringt, wenn sie sich allein am Rezept „Constructive News“ orientiert. Ich halte viel mehr davon, genau hinzusehen, Fakten zu sammeln und sich eine Meinung zu bilden – also die traditionellen, journalistischen Tugenden. Dabei muss es immer möglich sein, zu sagen, was eine gute Entwicklung ist, oder eben festzustellen, dass etwas schiefläuft. Das muss jede Redaktion selbstbewusst aus sich heraus tun, anstatt allein auf positive Nachrichten zu setzen. Es ist leicht zu erkennen, dass eine einseitig positive Sichtweise auch ein bisschen dumm macht.
Sie selbst beschreiben die Ausgabe als „Kontrastprogramm“ und haben die guten Nachrichten mit einem goldenen Stern versehen. Dabei handelt es sich um Nachrichten, die es in jeder Zeitung zu jedem Zeitpunkt gibt – sei es der sinkende Dieselpreis oder die Gemeinde, die Flüchtlinge als Hoffnungsträger gegen eine abnehmende Bevölkerung sieht. Nehmen wir die guten Nachrichten einfach nicht wahr?
Ich glaube tatsächlich, dass wir auf gute Nachrichten manchmal hingewiesen werden müssen. Nach meinem Eindruck neigen die Deutschen dazu, immer erst das Problem zu sehen. Deshalb lohnt es sich, zwischendurch einmal zu sagen: Schaut mal genauer hin. Ich hatte das Gefühl, dass wir mit der Ausgabe eine bestimmte Stimmungslage getroffen haben. Wir haben viele positive Rückmeldungen bekommen.
Sie meinen, dass immer mehr Menschen all die Nachrichten von Terror, Krieg und Leid nicht mehr ertragen?
Ja, genau. Und wir als Zeitung haben – ohne dick aufzutragen – gesagt: Es gibt auch Dinge, die positiv sind. Es gibt Lösungsansätze und Chancen, die bestimmte Entwicklungen mitbringen.
Das spricht ja dann aber doch für die „Constructive News“?
Für den Nachrichtenjournalismus ist das kein Konzept, das über schlechte Zeiten hinweg hilft. Man muss sich als Journalist darum bemühen, ein umfassendes Bild zu liefern. Bei manchen Dingen ist es so gut wie unmöglich, den positiven Dreh zu finden. Was aber zunehmen wird angesichts einer immer unübersichtlicheren und zunehmend als negativ empfundenen Welt sind Tendenzen von „cocooning“. Das zeigen die positiven Zahlen von Magazinen wie „Landlust“.
Was bedeutet das für Sie als Lokaljournalist?
Auch daraus sollte man meiner Meinung nach kein Konzept machen. Man muss den Menschen schon das zumuten, was tatsächlich in ihrer Gemeinde passiert. So authentisch, wahrheitsgetreu und unvoreingenommen, wie wir es vermögen. Ganz klassischer, aufklärerischer Journalismus. Was nicht heißt, dass dazu nicht auch die schönen Geschichten zählen – auch sie sind Teil der Wahrheit.
Sie haben gerade selbst die Stimmungslage in Deutschland angesprochen, die derzeit nicht allzu gut ist – auch in puncto Flüchtlinge. Könnten wir da nicht gerade gute Nachrichten gebrauchen? Auch, um medial einem Rechtsruck entgegenzuwirken?
Ich halte nichts davon, wenn die Presse pädagogisch unterwegs ist und durch eine bestimmte Auswahl versucht, pädagogisch zu wirken. Wir sind dazu da, die Leute zu informieren. Wir bekommen keine gute Integration hin, wenn wir uns Illusionen machen. Probleme müssen wir benennen – bei jedem Thema. Davor muss und darf man keine Angst haben. Denn mein Job ist es, über relevante Sachen zu berichten. Dazu gehört eine Schlägerei in der Flüchtlingsunterkunft genauso wie das Engagement vieler Menschen. Ich setze jedenfalls nicht die Schere an. Wenn ich mich frage „Darf das sein, was ich da wahrnehme“, mache ich einen grundsätzlichen Fehler.
Interview: Ann-Kristin Schöne
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