„Die Geschichte ist noch nicht zu Ende"
von drehscheibe-Redaktion
Für die Berichterstattung über die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg wird ein Redaktionsteam der Berliner Morgenpost mit dem Wächterpreis 2011 geehrt. Jens Anker, Michael Behrendt, Joachim Fahrun, Uta Keseling, Anne Klesse und Daniel Müller hatten im Januar 2010 als erstes über das Thema berichtet und damit eine ganze Welle von Berichten über Missbrauchsfälle in kirchlichen und anderen Einrichtungen ausgelöst. Die drehscheibe sprach mit Chefreporter Joachim Fahrun darüber, wie die Redaktion über die Missbrauchsfälle an der Berliner Eliteschule berichtete.
Herr Fahrun, herzlichen Glückwunsch zum Wächterpreis. Wie hat die Berichterstattung, für die Sie jetzt ausgezeichnet wurden, eigentlich begonnen?
Wir kennen uns gut aus in Berlin und sind gut vernetzt. So haben wir auch von dem Brief erfahren, den der Rektor des Canisius-Kollegs an ehemalige Schüler geschrieben hat, und in dem er sich für sexuelle Übergriffe, die an dem Gymnasium stattfanden, entschuldigt. Als uns der Brief vorlag, wussten wir sofort, dass es sich um eine große Geschichte handelt. Normalerweise werden Missbrauchsfälle durch die Opfer an die Öffentlichkeit gebracht. Da muss man erst recherchieren, ob sich der Missbrauch tatsächlich so zugetragen hat. Bis sich die Vorwürfe bestätigen und man mit der Geschichte rausgehen kann, vergeht oft einige Zeit. Das war in diesem Fall anders. Mit dem Brief des Rektors lag uns die
Bestätigung vor und wir konnten sofort darüber berichten.
Was haben Sie als erstes getan?
Wir haben intern besprochen, was wir machen. Da durch den Brief, der uns vorlag, die Gefahr nicht bestand, dass die Vorfälle dementiert werden, sind wir gleich am nächsten Tag mit der Geschichte nach draußen gegangen. Der Rektor hatte uns die Recherchearbeit ja quasi abgenommen.
War Ihnen da bereits klar, was diese Geschichte auslösen könnte?
Wir haben bereits relativ früh geahnt, dass die Geschichte ein Dammbruch sein könnte. Als sich die Geschichte über mehrere Wochen entwickelte, kam eine Lawine ins Rollen und immer mehr Leute haben sich getraut, über Missbrauchsfälle zu sprechen. Dass das im ganzen Land passieren würde, war allerdings nicht abzusehen.
Wie haben Sie die Geschichte weiter recherchiert?
Einige Kollegen von uns kennen die Schule sehr gut und so war es in der Redaktion schnell klar, um welche zwei Haupttäter es sich bei den Missbräuchen am Canisius-Kolleg handelt. Die Geschichten waren ja auch gerüchteweise in der breiten Schülerschaft bekannt. In der weiteren Berichterstattung ging es dann darum, weitere Opfer ausfindig zu machen, die ganze Geschichte aufzurollen, mit Juristen zu sprechen, eine politische Debatte in Gang zu bringen und vieles mehr.
Hatten Sie Leute in der Redaktion, die sich ausschließlich dieser Geschichte gewidmet haben?
Nein, aber man kann so eine Geschichte auch nicht mit ein, zwei Leuten machen. Wir hatten den Vorteil, dass wir in der Redaktion eng zusammenarbeiten. So hat sich jeder von uns um die Geschichte gekümmert und gleichzeitig seine Arbeit weiter gemacht. Dadurch dass so viele an der Geschichte gearbeitet haben, sind wir auch an verschiedenste Informationen herangekommen. Schließlich hat ja jeder seine Kontakte.
Sie hatten also als lokales Medium einen Vorteil?
An viele Informationen kommt man nur heran, wenn man die entsprechenden Leute kennt. Da kann man investigativ recherchieren, weil man nah dran ist an den Leuten. Da hat man als Lokalzeitung natürlich die Nase vorn. Entscheidend ist, dass die Menschen Vertrauen zu uns haben. Und das zeigt sich schon daran, dass sie mit dem Brief nicht zum Spiegel gegangen, sondern zu uns gekommen sind.
Wie lange haben Sie die Geschichte begleitet?
Ein Vierteljahr lang akut. Besonders als die Missbrauchsfälle an anderen kirchlichen Einrichtungen bekannt wurden, haben wir kontinuierlich weiter berichtet. Dann haben wir auch nach einem halben Jahr noch mal nachgehakt und eine Bestandsaufnahme in einem großen Dossier gemacht. Vor kurzem erst haben wir noch mal mit den Opfern gesprochen, die immer noch keine Entschädigung erhalten haben. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Interview: Jan Steeger
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