Interview

„Die Öffentlichkeit erweitern"

von

Der Journalist und Schriftsteller Günter Wallraff wurde in den 70er-Jahren mit seinen Undercover-Reportagen aus der Redaktion der Bild-Zeitung bekannt. Aber auch im Umfeld von Discountern recherchierte er. So schlich er sich im Jahr 2008 einen Monat lang in die Brotfabrik der Gebr. Weinzheimer aus Stromberg ein, die ein Zulieferer des Lebensmitteldiscounters Lidl war. Im Zeit-Magazin veröffentlichte er anschließend den Artikel „Unser täglich Brötchen“, in dem er neben der schlechten Bezahlung die Arbeitsbedingungen und die hygienischen Zustände in der Fabrik kritisierte. Die drehscheibe sprach mit ihm über seine Recherchemethoden.

Herr Wallraff, Sie recherchieren verdeckt, um Missstände aufzudecken. Wie lange bereiten Sie sich auf Ihre Rollen vor und wie kommen Sie auf Ihre Themen?

Das ist ganz unterschiedlich. Ich benötige viel Zeit, denn ich bin ja nicht der klassische Journalist. Und natürlich geht es mir in gewisser Weise auch um Menschenrechte. Ich bin manchmal auch parteilich, das heißt, ich nehme Partei für die jeweils Benachteiligten und Schwächeren. Die Themen entstehen bei mir, wenn ich auf Ungerechtigkeiten stoße. Manchmal kommen auch Menschen auf mich zu, die mich auf einen Missstand aufmerksam machen. Da bin ich dann auch gerne bereit, etwas aufzuschieben, was ich schon länger bearbeite, um mich dem Aktuellen zu stellen und auch das Vorwissen eines Informanten zu nutzen.

Wie verhielt sich das bei der Geschichte, für die Sie undercover in einer Großbäckerei tätig waren, die Lidl belieferte?

Damals wurde ich von jemandem angeschrieben, der mich auf frühkapitalistische Zustände in dem Betrieb hinweisen wollte. Daraufhin habe ich mich entschlossen, da undercover hineinzugehen. Was ich dort erlebt habe, ging selbst mir an die Substanz. Das war eine derart marode Anlage, fast alle meine Kollegen dort hatten Verbrennungen. Ich habe mir auch welche zugezogen, die Spuren sieht man heute noch an meinen Armen. Als die Reportage dann in der Zeit erschienen und die Dokumentation im Fernsehen gelaufen war, haben sich erneut Kollegen gemeldet, die Schlimmeres erlebt haben. Die Kontakte zu ihnen halten übrigens bis heute.

Wie sind Sie in die Firma gelangt? Haben Sie sich da auf übliche Weise beworben mit einem Lebenslauf et cetera?

In diesem Fall nicht. Ich habe damals einen Trick angewandt: Ich habe mich auf mein Rennrad geschwungen und bin da einfach im Sportlerdress erschienen. Die wollten da an sich niemanden einstellen, schon gar 
nicht jemanden über 50, aber ich habe die so bequatscht, dass sie mich genommen haben. Dabei habe ich von meinen Erfahrun­gen aus Callcentern profitiert, denn dort wurden wir geschult, und ich werde das Briefing des Ausbilders nie vergessen: „Den anderen nicht zu Wort kommen lassen! Gegenenergie aufbauen! Unvermeidlichkeit suggerieren! Positive Bilder erzeugen! Auf den Abschluss drängen!“

Offensiv vorzugehen – „frech wie Oskar“ – kann also auch eine gute Tarnung sein?

Richtig. Und schon war ich in dem Laden drin, in diesem Horrorkabinett.

Hatte Ihre Geschichte Folgen?

Ja, und das war sehr interessant. Lidl hat erst einmal positiv reagiert. Gewerkschaften bekamen Zutritt, ein Tarifvertrag wurde abgeschlossen, der Unternehmer entschuldigte sich sogar, und die Löhne wurden erhöht. Das war erst einmal ein voller Erfolg.

Das klingt so.

Ja, aber es wurde sehr schnell wieder zurückgedreht. Als die Öffentlichkeit keinen Anteil mehr nahm, wurden Leiharbeiter eingestellt, und der alte Schlendrian hielt wieder Einzug. Die Großbäckerei hat dann irgendwann dichtgemacht, was aber nicht an mir lag. Die Firma war unternehmerisch heruntergewirtschaftet.

Wie sichern Sie sich bei solchen Geschichten rechtlich ab?

Es gibt inzwischen eine gewisse Sorte von Anwälten, die durch Einschüchterung und Abmahnschreiben versuchen, kritische Berichterstattung zu verhindern. In diesem Fall handelte es sich um mehrere Anwälte, die versuchten, meine Reportage anhand von Nebensächlichkeiten in Zweifel zu ziehen. In der Auseinandersetzung entstanden kiloweise Akten – für nichts und wieder nichts. Ich habe dann bei wenigen Nebensächlichkeiten einem Vergleich zugestimmt.

Zum Beispiel bei welcher?

Ich hatte in einer Live-Fernsehsendung gesagt: Alle meine Kollegen hatten Verbrennungen. Ich hatte die eidesstattlichen Erklärungen von ihnen. Im Vergleich war dann die Rede von „fast alle meiner Kollegen“. Denn der Inhaber zum Beispiel hatte keine Verbrennungen – allerdings habe ich ihn auch fast nie arbeiten gesehen. Oder an der Stelle, wo es geheißen hatte, es hätten „keinerlei Reparaturen“ stattgefunden, konnte ich weiter behaupten, die Reparaturen, die stattgefunden hatten, waren „völlig unzureichend und totaler Murks“. Da habe ich im Prinzip nichts zurückgenommen, aber der Abmahnanwalt feierte das als Sieg für sich und als Niederlage für Wallraff. Das ist übrigens derjenige Anwalt, der momentan Lokalzeitungen und einen Gewerkschaftssekretär in der Amazon-Sache abmahnt. Amazon selbst hält sich klugerweise bedeckt. Da ist zurzeit der Abmahnanwalt für die Sicherheitsfirma und die Leiharbeitsfirma aktiv. Da sollten sich die Kollegen der Lokalzeitungen und aktuell auch der FAZ aber nicht einschüchtern lassen.

Wenn man Ihre Geschichten hört, könnte man meinen, Sie brauchen selbst ein ganzes Anwaltsbüro.

Manchmal macht die rechtliche Auseinandersetzung mehr Arbeit als die Geschichte selbst. Denn da wird ein Riesenaufwand betrieben, einen mürbe zu machen.

Was würden Sie den Kollegen im Lokalen in solchen Fällen empfehlen?

Wichtig ist, dass man vor der Veröffentlichung eidesstattliche Erklärungen der Zeugen einholt. Auch von ehemaligen Beteiligten zum Beispiel, die nichts mehr zu verlieren haben. Damit kann man gut dagegen halten. Man muss die Öffentlichkeit erweitern, indem man stufenweise vorgeht und die härteren Fälle anfangs zurückhält. Wenn sich die Auseinandersetzung dann verschärft, kann man nachlegen. Aber sicher ist das schwer für die Kollegen in den Lokalzeitungen. Denn ein kleines Blatt überlegt es sich in diesen schwierigen Zeiten dreimal, ob es riskieren will, einen Anzeigenkunden zu verlieren. Das ist ein großes Problem, wofür ich auch keine Lösung parat habe.

Was würden Sie machen, wenn bei Ihrer Recherche herauskommt, dass die 
Zustände gar nicht so schlimm sind, wie Sie angenommen haben?

Ich habe keine vorgefertigte Ideologie und freue mich immer, wenn ich etwas zum Positiven bewirken kann. In der Realität sind die Zustände oft anders, als ich sie mir vorgestellt habe: anders schlimm, weniger schlimm oder auch schlimmer schlimm.

Für Lokaljournalisten ist es schwer, solche verdeckten Recherchen zu betreiben. Meist kennt man sie in der Stadt, auch an Zeit mangelt es. Was würden 
Sie den Kollegen raten? Was geht, was nicht?

Wichtig ist, dass Lokaljournalisten sich mit Bürgerinitiativen zusammentun, mit Verbraucherschutzorganisationen, und dass sie sammeln, was die zu berichten haben. Man muss schauen, wie es den Opfern dieser Gesellschaft ergeht. Aber man sollte nicht leichtfertig immer gleich auf Konfrontation gehen, das muss man von Fall zu Fall entscheiden. Man kann zum Beispiel auch als Mediator auftreten und bei Konflikten vermitteln, man kann helfen, Runde Tische einzurichten und vieles mehr.

In welchem Bereich wird Ihre nächste Geschichte spielen?

Ich habe ein Büro gegründet – Work Watch und Brennpunkt Betrieb (siehe unten, Anm. d. Red.). Im Beirat befindet sich unter anderem der NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider und Norbert Blüm. Ein Buch ist in Arbeit, wobei die Honorare voll den Betroffenen zugutekommen. Dafür werde ich auch wieder undercover tätig sein.

Das Work Watch Büro/Brennpunkt Betrieb geht Fällen nach, in denen Arbeitgeber mit rechlich fragwürdigen Methoden gegen Beschäftigte oder Betriebsräte vorgehen: www.brennpunkt-betrieb.de

Buch:

Günter Wallraff: Aus der schönen neuen Welt.
Expeditionen ins Landesinnere. Kiwi, Köln, 2012, 384 Seiten, 9,99 Euro.
ISBN: 978-3-462-04315-0





Günther Wallraff

... ist Journalist und Schriftsteller.

Mail: guenter-wallraff@t-online.de

Web: Guenter-wallraff.com

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