„Es reicht nicht mehr aus, den Leser mit Neuigkeiten zu versorgen“
von drehscheibe-Redaktion
Am 1. Oktober 2012 wurde der Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung verliehen. Am Rande des Festaktes in Bonn sprach Paul-Josef Raue, Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen, mit Dieter Golombek, Sprecher der Jury des Lokaljournalistenpreises, über die Lage des Lokaljournalismus. Die drehscheibe dokumentiert das Gespräch.
Natürlich Sie mögen die Stadt und das Dorf, die kleine Politik und die großen Fragen. Sie gelten als Pionier der Lokalzeitungen. Was reizt Sie so am Lokaljournalismus?
Nirgendwo ist der Journalist den Menschen so nahe. Und in der Pflicht, die Bürger dazu einzuladen, „sich in ihre eigenen Angelegenheiten einzumischen“, wie es der frühere Bundespräsident Horst Köhler formuliert hat.
Hört sich nach einem Bildungsauftrag an?
Das ist auch so. Es reicht für die Zeitungen nicht mehr aus, den Leser mit Neuigkeiten zu versorgen. Das schafft das Internet schneller. Informationen müssen immer wieder so komponiert werden, dass Orientierung entsteht. Bei Themen, die die Menschen bewegen, wollen sie Bescheid wissen: Welche Folgen hat der demografische Wandel für meine Region, wie steht es um die Qualität von Pflegeheimen, wie kommen die Stadtwerke mit der Energiekrise zurecht und welche Folgen hat dies für meinen Geldbeutel? Solche Themen dürfen nicht im Kleinklein der routinierten Lokalberichterstattung versanden. Sie brauchen Raum, um verständlich rüberzukommen.
Dann wollen die Leser doch mitreden?
Ja. Und dafür hat die Zeitung die Voraussetzungen zu schaffen. Das ist ihr vornehmster Auftrag in einer Demokratie: Debatten anzustoßen und Vorraussetzungen für gute Debatten zu schaffen mit Hilfe des guten alten Medium Tageszeitung und mit Unterstützung der neuen medialen Möglichkeiten, dem Onlineauftritt ebenso wie Facebook und Twitter.
Zeitung soll Bündnisse eingehen mit der Konkurrenz?
So ist es. Für Zeitungen eröffnen sich umso mehr Möglichkeiten, je weiter das Netz um sich greift. Online-Journalismus ist eine große Chance für die lokalen Tageszeitungen, mit den neuen medialen Möglichkeiten Leser und Nutzer zu Mitdenkern und Mitgestaltern zu machen.
Viele Leser verlangen von ihrer Zeitung, sie solle sich radikal auf ihre Seite stellen, ihr Anwalt sein im Kampf gegen Staat und Politiker.
Die Redakteure können es sich leicht machen, Politiker beschimpfen, Politik verächtlich machen und sich als Anwalt der Unzufriedenen in Szene setzen. Das kommt bei vielen bestimmt gut an. Journalisten sind aber gehalten, genau zu recherchieren, Problemen auf den Grund zu gehen, auch zu zeigen, wie schwierig sich Entscheidungen oft gestalten, weil es nicht möglich ist, allen Anforderungen, Wünschen und Interessen gerecht zu werden. Journalisten dürfen sich auf keinen Fall zum Anwalt von Stammtischparolen machen.
Darf die Lokalzeitung selber Themen anstoßen? Muss sie nicht warten, bis Politiker oder Initiativen Themen anbieten?
Wer, bitte sehr, soll festlegen dürfen, was in der Gesellschaft wann diskutiert wird? Die Politiker, die Verwaltungen, die vielen Initiativen? Journalisten müssen im Auftrag und im Interesse ihrer Leser selber Debatten anstoßen können. Sie müssen dabei gut aufpassen, dass sie sich nicht vor einen Karren spannen lassen.
Genau das versuchen aber doch viele Politiker?
Ja, und machen es mit Raffinesse. Sie verfolgen eben ihre Interessen. Der Auftrag für die Zeitung ist aber anders, sie darf sich nicht einbinden lassen, in politische Geschäfte auch nicht durch Vertraulichkeit - etwa nach dem Motto: „Ich erzähle Dir jetzt, wie es wirklich läuft, Du sollst ja Bescheid wissen, aber schreiben darfst Du darüber natürlich nicht.“. Die politisch Handelnden wollen Entscheidungen in ihrem Sinne durchsetzten, sie sind daran interessiert, nur Tatsachen ans Licht der Öffentlichkeit gelangen zu lassen, die für ihr Vorhaben sprechen. Es kommt nicht von ungefähr, dass sie die lokalen Medien in diesem Sinne instrumentalisieren wollen.
Im lokalen Raum kommen sich Politiker und Journalisten sehr nahe. Sind Konflikte da nicht vorprogrammiert?
Das ist richtig und darin lauert auch eine große Gefahr. Wenn mein Sohn mit dem Bürgermeistersohn die selbe Klasse besucht, die Frauen sich gut verstehen, er kein unrechter Typ ist, wenn man sich freundlich begegnet, dann kann es schon sehr schwer fallen, für den Bürgermeister unangenehme Nachrichten ins Blatt zu bringen. Nachrichten trotz Nachbarschaft zu liefern, ist das schwere Brot für Lokaljournalisten. Es erfordert Mut, Missstände und Versäumnisse öffentlich zu machen, es erfordert Mut und Augenmass, das Wächteramt auszufüllen. Die lokale Tageszeitung ist der Chefanwalt für Öffentlichkeit vor Ort, Anwalt, aber nicht Richter.
Ist der Lokaljournalismus nicht in Gefahr, mit seinen Nachrichten aus der Nachbarschaft provinziell zu sein?
Er ist in der Gefahr und er muss ihr begegnen, die ganze Zeitung muss es tun. Die Chefredakteure müssen ihre Redaktionen neu aufstellen, um auf die Herausforderungen und Chancen richtig zu reagieren, die diese Medienwelt hergibt. Sie muss sich auf ihre Kernkompetenz besinnen und den Brückenschlag schaffen zwischen den Interessen ihrer Leser und der Fülle möglicher Informationen, den Brückenschlag zwischen den lokalen Welten und der einen Welt.
Eine gewaltige Aufgabe ...
Aber sie ist nun mal da, und es ist die Marktlücke für die Tageszeitung. Viele Themen spielen ins Lokale hinein, aus Brüssel, aus Berlin, aus Erfurt, aus der ganzen Welt. Der Leser will begreifen, will nachvollziehen, was das Ganze für ihn, in seinem Dorf, in seiner Stadt bedeutet: Ozonloch, Eurokrise, terroristische Bedrohung, demografischer Wandel, die neue Schulvergleichsstudie.
Alle diese Informationen finde ich doch auch im Netz?
Aber sie verwirren mehr als sie orientieren. Eine schier unendliche Fülle von höchst widersprüchlichen Informationen überfällt mich, die Bezüge zu meiner Region fehlen. Und hier kommt die Zeitung ins Spiel. Bei ihr arbeiten Redakteure, die diese unendlich komplizierte und vielschichtige Wirklichkeit sichten und in nachvollziehbare Nachrichten umsetzen und so die Welt verstehbar machen können. Nachrichten aus Politik und Wirtschaft, überregionale Themen brechen sie auf das Lokale herunter. So wird Welt verstehbar, so macht sich Zeitung unverzichtbar – wenn sie gut ist.
Ein hoher Anspruch…
Zeitungen wollen überleben, und sie sollen überleben – im Interesse der Demokratie, im Interesse des wohl informierten Bürgers, den diese Demokratie braucht. Zeitungen überleben, wenn sie das Lokale als Auftrag ernst nehmen, nicht kleinkariert und provinziell, sondern mit dem Anspruch, die großen Themen der Zeit für die Region und in der Region zu übersetzen. Tageszeitungen und Journalisten, die diesem Auftrag gerecht werden, verdienen hohen Respekt.
Sie organisieren seit über drei Jahrzehnten den Deutschen Lokaljournalistenpreis, haben tausende von Konzepten, Serien, Aktionen und Reportagen gelesen. Was hat sich verändert?
Die Qualität im Lokalen ist deutlich gestiegen, sie ist höher als vor zehn oder zwanzig Jahren. Der Anteil der guten und sehr guten Einsendungen zum Preis ist in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. Immer mehr Redaktionen befreien sich von Routinen, geben nicht nur Pressemitteilungen wieder oder drucken ab, was ihnen Politiker oder Funktionsträger diktieren. Sie erkunden die Bedürfnisse ihrer Leser, sie erforschen, was sie lesen wollen. Sie binden ihre Leser ein, öffnen die Zeitung für die Debatten, die dieses Land, diese Demokratie braucht.
Und was ist guter Journalismus?
„Schreiben was ist!“ Auf diesen drei Worten des rasenden Reportes Egon Erwin Kisch gründet der journalistische Urauftrag. Aber was ist „Was“? Jeden Tag trifft jede Redaktion Entscheidungen, was sie ihren Lesern bieten will, das „Was“ betrifft aber auch die grundsätzliche Frage, wie sich die Zeitung im Zeitalter von Internet, Radio und Fernsehen versteht, was ihr Kerngeschäft sein soll und sein kann. Sie muss immer wieder neu bestimmen, was für ihre Nutzer wichtig ist und interessant, und was man getrost anderen Medien überlassen kann.
Direkt nach der Wende ist der Lokaljournalistenpreis nach Leipzig gegangen, hat dort im Rathaus die Preisträger geehrt. Dennoch überwiegen die Preisträger aus dem Westen. Warum tun sich ostdeutsche Zeitungen so schwer?
Die eine einfache Antwort gibt es nicht. Was man leicht aus den Augen verliert: Zeitungen hießen auch zu DDR-Zeiten Zeitungen, hatten aber eine ganz andere Funktion. Sie waren Erfüllungsgehilfen und Sprachrohre der Machthaber. Sie mussten nach der Wende von einem Tag auf den anderen in ihre neue Rolle finden. Das betraf die Journalisten, das betraf die Unternehmen. Was man auch nicht verschweigen darf: Viele der neuen Besitzer aus dem Westen haben auch nicht so ganz genau gewusst, was sie wollen sollen. Was mich optimistisch stimmt: Ich entdecke immer mehr respektabel gemachte Zeitungen im Osten.
Die Jury sucht das Außergewöhnliche in den 1500 Lokalteilen in Deutschland. Was war so außergewöhnlich, dass die Thüringer Allgemeine schon zwei Mal in Folge einen der Preise gewonnen hat?
Die Thüringer Allgemeine hat ein Konzept. Die Redakteure verschanzen sich nicht in ihren Redaktionsräumen. Sie gehen raus, sprechen mit den Menschen. Sie sind so in der Lage, Themen im Auftrag und Interesse ihrer Leser zu setzen. Sie geben Lesern eine Stimme, sie stehen in einem permanenten Dialog mit ihnen. Sie wandern 300 Kilometer an der Grenze entlang und stellen dabei auch die heiklen Fragen nach der Vergangenheit.
Ist es nicht an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen?
So lange Menschen da sind, die die DDR erlebt und erlitten haben, wird diese Debatte kein Ende finden. Ich meine, mit Recht. Die Art und Weise, wie die Thüringer Allgemeine diese Vergangenheit verarbeitet, halte ich für vorbildlich. Die Redakteure lassen sich in Dienst nehmen von den Lesern, die sich von der Seele sprechen wollen, was sie damals bewegt hat. Geschichte wird geschrieben nicht über sondern mit den Menschen, die sie erlebt und im Gedächtnis behalten haben.
Also sind die Auszeichnungen für die Zeitung auch Auszeichnungen für die Leser?
Es gibt wenige Zeitungen, die ihre Leser so ernst nehmen wie die Thüringer Allgemeine. Die Auszeichnung für die Redaktion ist auch eine Auszeichnung für die gepflegten Beziehungen zu den Lesern und nicht zuletzt für die Leser selbst.
Das Interview erschien zuerst am 13. Oktober 2012 in der Thüringer Allgemeinen.
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