„Ein Bedürfnis der Menschen erfüllen“
von Stefan Wirner
Die Freie Presse hat in dem kleinen Ort Mittweida ein Projekt für hyperlokalen, digitalen Lokaljournalismus begonnen. Franziska Pester, Projekteiterin Digitales, erläutert das Konzept.
Frau Pester, „Wir in Mittweida“: Worum handelt es sich bei diesem Projekt?
Es handelt sich um eine experimentelle Lokalredaktion, die die Freie Presse in Mittweida mit seinen etwa 14.300 Einwohnern eröffnet hat. Zum einen wollen wir sehr viel hyperlokaler bzw. sublokaler werden, als wir das bisher in der Mittweidaer Lokalausgabe gewesen sind. Man muss ja beim Blattmachen immer entscheiden, wie relevant ist ein Beitrag für Leser, die zwar die Mittweidaer Zeitung beziehen, aber nicht direkt dort wohnen. Interessiert die eine größere Geschichte über den Bau einer Nebenstraße oder reicht dazu eine Nachricht? Wir wollen fortan online gezielt die Geschichte hinter der Nachricht erzählen, weil wir uns direkt an die Mittweidaer richten wollen. Wir wollen das aufgreifen, was die Menschen hier bewegt.
Und zum anderen?
Zum anderen testen wir, wie reiner Digitaljournalismus im Lokalen funktionieren kann. Dafür versuchen wir, multimediales Erzählen voranzutreiben. Wir versuchen, die Texte sehr stark SEO zu optimieren, und wir wollen mit den Beiträgen auf der Website auch nach dem Erscheinen noch arbeiten, um die Verweildauer der Nutzer zu erhöhen und die Reichweite zu vergrößern. Wir wollen also zwei Felder abdecken: den hyperlokalen Ansatz und das Konzept „Digital first“ im Lokalen.
Welche Erzählweisen können da vorkommen?
Das ist ein breites Feld, auf dem wir viel ausprobieren. Zum Beispiel binden wir Videos ein, die den Text ergänzen und nicht noch einmal das erzählen, was schon im Text beschrieben wird. Wir arbeiten mit interaktiven Karten, und wir nutzen Umfragetools, um eine Art Gamification in die Berichterstattung zu bekommen.
Haben Sie eine spezielle Zielgruppe im Blick?
Die hat unsere Verlagsleitung genau definiert, nämlich die 30- bis 50-Jährigen. Wir haben bei der Analyse unserer Leserdaten festgestellt, dass unser Printprodukt sehr stark von älteren Lesern genutzt wird, wir aber eine Lücke bei den 30- bis 50-Jährigen haben. Diese Altersgruppe konsumiert Nachrichten vor allem im Digitalen, deshalb wollen wir dort ansetzen.
Sie haben in Mittweida eigens ein neues Büro eröffnet. Warum ausgerechnet Mittweida?
Wir haben in unserem Verbreitungsgebiet mit Chemnitz eine richtige Großstadt, aber sehr viele kleine Städte wie Mittweida, Städte mittlerer Größe mit 7.000 bis 15.000 Einwohnern. Und in diesen Orten hat unser Printprodukt große Verluste zu verzeichnen. Deshalb wollen wir sehen, wie wir dieses große Gebiet langfristig erhalten können. Andererseits ist die Stadt nicht allzu weit von Chemnitz entfernt, es sind etwa 30 Minuten mit dem Auto. Es gibt sehr viele Pendler zwischen Chemnitz und Mittweida, es gibt eine Hochschule mit einem starken Medienstudiengang und ein großes Industriegebiet. Da kommen viele interessante Faktoren zusammen.
Sie sind in der Planungsphase auch nach Norwegen gefahren, um sich dort ähnliche Projekte anzusehen. Wie lief das ab?
Der Amedia-Konzern in Norwegen ist sehr erfolgreich, was den Verkauf von Digitalabos angeht. Die haben 80 Lokalzeitungen plus zwölf reine Online-Nachrichtenportale. Von rund 723.000 Abonnenten sind 416.000 reine Digitalabonnenten. Unser Geschäftsführer Dr. Michael Tillian hat sich gefragt: Wie machen die das? Wie haben die ihre Strukturen, ihre Arbeitsweisen, ihr ganzes Denken verändert, um digital so erfolgreich zu sein? Also haben wir uns diese Webseiten erst mal von Deutschland aus angesehen, dann haben wir analysiert, welche Erzähl- und Darstellungsformen, welche Bildsprache dort gewählt wird. Im Anschluss haben wir uns die interessantesten Zeitungen herausgesucht und uns gefragt: Wie arbeiten die? Welche Workflows praktizieren die? Das wollten wir genauer wissen. Deshalb ist im Vorfeld unser stellvertretender Chefredakteur Digitales, Sascha Aurich, zusammen mit unserer Leiterin Unternehmensentwicklung, Anja Kratzer, nach Oslo in die Amedia-Zentrale gefahren, um dort mit der Konzernleitung zu sprechen. Später bin ich dann mit zwei Kollegen zu der Zeitung Budstikka südwestlich von Oslo gefahren, dann waren wir bei der Zeitung Fremover in der Kleinstadt Narvik, die 200 Kilometer nördlich des nördlichen Polarkreises liegt, aber von der Größe gut vergleichbar mit Mittweida ist. Und wir waren ganz im Norden beim Zeitungshaus Nordlys in Tromsø, weil die dortige Lokalzeitung die digitale Transformation schon 2011 eingeleitet hat. Die Kollegen dort haben inzwischen 70 Prozent Digitalabonnenten.
Was hat Sie persönlich in Norwegen am meisten beeindruckt?
Mir ist der Satz einer Chefredakteurin im Gedächtnis geblieben: „Data is king for us.“ Die Norweger werten intensiv die Daten ihrer registrierten Nutzer aus, untersuchen, wie der Nutzer sich im Artikel verhält, im Tagesverlauf usw. Anschließend richten sie ihr Angebot danach aus, um die Nutzerinteressen optimal zu befriedigen. Nichtsdestotrotz nehmen sie nach wie vor ihren gesellschaftlichen Auftrag wahr, indem sie über das berichten, was ist, es analysieren und einordnen. Sie respektieren aber, was die Nutzer wollen, und legen ihren Fokus ganz stark auf die Perspektive der Menschen. In jedem Artikel steht ein Mensch im Mittelpunkt. Und es sind immer recherchierte Geschichten. Kurz: Diese Redaktionen haben einen radikalen Perspektivwechsel vollzogen und sind damit erfolgreich.
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