Gelebte Inklusion
von Max Wiegand
Seit 2020 arbeiten beim österreichischen Online-Magazin „andererseits“ Menschen mit und ohne Behinderung gleichberechtigt zusammen. Redaktionsleiterin Lisa Kreutzer erklärt im Interview, wie man als Redaktion inklusiv arbeitet und warum der Journalismus dafür offener werden sollte.
Frau Kreutzer, seit wann gibt es „andererseits“ und welche Idee steckt dahinter?
Gegründet haben wir uns als ehrenamtliches Projekt im Mai 2020. Seit Herbst 2022 sind wir eine GmbH, zahlen Honorare und haben erste Anstellungen geschaffen. Wir sind ein inklusives Online-Magazin, das heißt, Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten gemeinsam und gleichberechtigt in der Redaktion zusammen. Studien zeigen, dass 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung eine Behinderung haben. In Redaktionen gibt es jedoch nur eine Handvoll von ihnen. Dadurch gehen Perspektiven verloren, die wir zurückbringen möchten.
Wer schreibt für „andererseits“, und wie ist die Arbeit strukturiert?
Es gibt etwa 30 Personen, die regelmäßig auf Honorarbasis für uns schreiben. Wir bilden inklusive Teams, in denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten und für die gleiche Arbeit das gleiche Geld bekommen. Jede Person bringt eigene Kenntnisse und Fähigkeiten mit und wird da unterstützt, wo sie noch etwas benötigt. Jeden Donnerstag treffen wir uns in der Redaktion und arbeiten gemeinsam. Alle zwei Wochen besprechen wir Themen in einer Redaktionssitzung.
Was sind Ihre Themen?
Es geht oft um die Lebensrealität unserer Autorinnen und Autoren. Wir verstehen uns als Magazin für Gesellschaft und Behinderung, deshalb stehen unsere Themen oft damit in Zusammenhang. Menschen mit Behinderung können und sollen bei „andererseits“ über jedes Thema schreiben. Wir brauchen ihre Perspektiven und Blickwinkel. Wir haben etwa eine Dokumentation über die Flutkatastrophe im Ahrtal gedreht, bei der 12 Menschen in einem Behindertenwohnheim umkamen. Derzeit recherchieren wir viel über Inklusion am Arbeitsmarkt und setzen uns auch mit Liebe und Sexualität auseinander.
Wie schafft man eine inklusive Struktur in einer Redaktion?
Wir fragen unsere Kolleginnen und Kollegen, was sie zum Arbeiten benötigen. Menschen mit Behinderung sind oft gewohnt, dass sie das selbst sagen müssen. Nicht behinderte Menschen wiederum sind es nicht gewohnt, ihre eigenen Bedürfnisse zu äußern. Wir versuchen dann, das Arbeitsumfeld entsprechend zu gestalten. Bei uns arbeiten zum Beispiel viele Menschen mit Lernschwierigkeiten. Deshalb sprechen wir in Einfacher Sprache, reden langsam, nehmen uns Zeit, sind immer für Fragen offen. Bei uns soll jeder Mensch kriegen, was er braucht. Und in einem inklusiven Raum gilt das für alle – egal, ob mit Behinderung oder ohne.
Inwiefern achten Sie auch in der Berichterstattung auf inklusive Sprache?
Wir schauen, dass unsere Umsetzungen in Einfacher Sprache gehalten sind oder zumindest in Einfacher Sprache zusammengefasst werden. Der Journalismus als Standbein der Demokratie soll Menschen informieren, damit sie darauf basierend Entscheidungen treffen können. Knapp 30 Prozent der Bevölkerung sind auf Einfache Sprache angewiesen. Diese Menschen werden mit hochschwelligen Texten nicht erreicht.
Woran liegt es, dass es in Österreich nur eine Handvoll von Journalistinnen und Journalisten mit Behinderung gibt?
Der Arbeitsmarkt ist generell nicht inklusiv, aber der Journalismus selbst ist noch mal besonders stark umkämpft, viele Menschen wollen dort arbeiten. Es fängt schon bei den Journalistenschulen an: Oft werden Schulabschlüsse verlangt, die Menschen mit Behinderung in Deutschland und Österreich gar nicht erreichen können, weil auch die Schulsysteme nicht inklusiv sind. Die Menschen bekommen nicht die Unterstützung, die sie brauchen. Wir sollten uns fragen, was wir für Journalistinnen und Journalisten haben wollen. Sind es diejenigen, die am schnellsten arbeiten, sich am besten durchsetzen können und auch finanziell oder sozial die besten Startvoraussetzungen hatten? Oder möchten wir in den Redaktionen Menschen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten und -perspektiven haben? Diese Fragen muss sich jede Redaktion selbst stellen.
Wie bewerten Sie generell die Berichterstattung über Menschen mit Behinderung?
Wenn über Menschen mit Behinderung berichtet wird, geht es meist entweder um das Leid einer Person oder darum, dass sie etwas trotz ihrer Behinderung geschafft hat. Aber der Alltag von Menschen mit Behinderung wird nicht gezeigt. Diese Kritik wird von Studien bestätigt, etwa am Beispiel der Spendensendung „Licht ins Dunkel“, in der Menschen mit Behinderung überwiegend als hilfsbedürftig dargestellt wurden.
Interview: Max Wiegand
Hörtipp
Um Inklusion in Redaktionen geht es auch in einer neuen Folge unseres drehmoment-Podcast. Darin sprachen wir mit Jonas Karpa, Redaktionsleiter von Die Neue Norm und Leidmedien.de. Hören Sie mal rein: Zum drehmoment
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