„Gute Multimedia-Geschichten brauchen Zeit“
von Fabian Scheuermann
Wie funktioniert guter Multimedia-Journalismus? Und kommen auch politische Beiträge an? Ein Gespräch mit Stefanie Zenke, Leiterin der Redaktion „Multimediale Reportagen“ von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten.
Frau Zenke, Sie leiten seit 2016 das Ressort „Multimediale Reportagen“. Dort veröffentlichen Sie bunte Beiträge, etwa aus dem Zoo, mit Fußball-Bezug oder Servicelastiges – aber auch Politisches. Ist die Umsetzung politischer Themen im Multimedialen besonders schwierig?
Man muss den richtigen Dreh finden und man sollte gute Protagonisten für den Beitrag haben, also Menschen in den Mittelpunkt der Berichterstattung stellen. Mit diesen Menschen stehen oder fallen politische Multimedia-Beiträge. Beim Thema Armut zum Beispiel, was ja sehr politisch ist, könnte man drei unterschiedliche Protagonisten porträtieren und sich so dem Thema multimedial nähern.
Lassen sich komplexe Themen wie Haushaltsberichterstattung oder demografischer Wandel überhaupt zufriedenstellend multimedial umsetzen?
Wenn Geschichten auf Zahlen basieren, kann man das natürlich datenjournalistisch umsetzen oder mit interaktiven Grafiken. Zum demografischen Wandel haben wir zum Beispiel im Rahmen unseres BW-Atlas eine Geschichte aufgetan. Wir hatten entdeckt, dass in der Gemeinde Böllen im Schwarzwald laut Statistik 2030 keine Kinder mehr geboren werden. Das war ein guter Ansatz, um etwas daraus zu machen. Man kann bei so etwas einen Menschen aus dem Ort suchen und diesen erzählen lassen, dazu kommen die Zahlen und Fakten und schon habe ich eine neue Geschichte.
Und wie werden Sie das Thema Bundestagswahlen aufgreifen?
Das verraten wir noch nicht. Die Geschichten spielen auf jeden Fall in der Fläche Baden-Württembergs, unter Menschen. Wir haben dafür auch jemanden aus der Politikredaktion ins Boot geholt, denn so etwas geht nur ressortübergreifend. Diesen Austausch finde ich ganz wichtig. Unsere erfolgreiche Fußball-Geschichte zu zehn Jahren Meisterschaft des VfB Stuttgart zum Beispiel ist in Zusammenarbeit mit den Sport- und Onlineressorts zustande gekommen.
Wo liegt denn der journalistische Schwerpunkt des Ressorts?
Wir legen den Fokus aufs Lokale und wir wollen keine Konkurrenz zu Medien wie „Spiegel Online“ sein, dafür sind wir viel zu klein. Wir hatten aber auch schon Beiträge zu Flüchtlingen auf der griechischen Insel Lesbos oder zur Lage in der Ukraine – wir brechen also auch einmal aus dem Lokalen aus, wenn wir gute Angebote von Kollegen haben. Und wir können nicht tagesaktuell reagieren – aber natürlich kann man Geschichten vorausplanen, von denen man weiß, dass sie an einem Tag von Bedeutung sein werden.
Sie leiten das Ressort seit über einem Jahr – welche Tools zum digitalen Storytelling funktionieren besonders gut? Und welche können Sie nicht empfehlen?
Wir haben zu Beginn mit „Atavist“ gearbeitet und das nutzen wir auch heute noch. Die Printkollegen ließen sich so ganz charmant für diese Art des Arbeitens begeistern, weil bei „Atavist“ viel von ihren Texten übrig bleibt. Jetzt haben wir aber ein eigenes CMS, das wir für die Multimedia-Geschichten programmiert haben. Wir haben eine Longread- und eine Kapitelform für die Beiträge und gerade letztere kommt sehr gut an. Wir dachten zuerst, dass wir die User dabei mit zu viel Inhalt erschlagen, aber im Gegenteil.
Ein Beispiel für diese portionsweise Herangehensweise ist Ihr umfassender Beitrag zur Kinderbetreuung.
Beim „Kita-Kompass“ haben wir alles in einzelnen Kapiteln erklärt. Das war ein Experiment, zu schauen, ob die User so etwas überhaupt möchten. Und das Experiment ist geglückt! Mit dem eigenen CMS haben wir jetzt die große Freiheit, die Geschichten nach unseren Bedürfnissen anzupassen. Bei Tools wie „Pageflow“ hingegen kommt man relativ schnell an eine Grenze – ab da werden alle Geschichten irgendwie gleich.
Sie bleiben also dabei.
Wir wollen uns die Flexibilität bewahren, neue Tools und Formate auszuprobieren. Dabei haben wir auch immer im Blick, die Geschichten ins hauseigene CMS zu integrieren. Unser Programmierer sitzt gerade an einem Update der Datenbank des BW-Atlas, auch eine mobile Version soll es dafür geben.
Was empfehlen Sie kleineren Redaktionen – wie lassen sich auch mit wenigen Leuten und ohne eigenes CMS qualitative Multimedia-Beiträge produzieren?
Welches das passende Tool ist, muss jedes Haus für sich entscheiden – und sei es „Pageflow“. Auf jeden Fall sollte man den Mut haben, mal etwas Neues auszuprobieren. Und: gute Geschichten brauchen Zeit. Wenn man eine qualitative Multimedia-Geschichte haben will, dann ist die nicht in einem Tag fertig. Die Schnellste, die wir umgesetzt haben, hat zwischen zwei und drei Tage in Anspruch genommen. Aber an einer großen Geschichte wie dem erwähnten VfB-Beitrag haben acht Leute über viele Wochen hinweg immer mal wieder dran gesessen. Bei uns laufen viele Projekte parallel. Aber auch für kleine Redaktionen gilt, dass man in jedem Fall jemanden braucht, der sich mit der Technik dahinter auskennt – das Rad der Entwicklungen wird sich immer schneller drehen.
Apropos schnelle Entwicklung: Ist denn VR-Journalismus bei Ihnen schon ein Thema?
Wir überlegen gerade, wie man das für eine Lokalzeitung herunterbrechen kann. Es bieten sich zum Beispiel Orte an, die man als normaler Mensch nicht aufsuchen kann. Wir sind dran.
Welche Beiträge waren denn Ihre Erfolgreichsten?
Der absolute Renner war eine Geschichte zu Thermomix – dazu hatten wir ein Videotagebuch. Auch unser Poetry-Slam-Ansatz zu 65 Jahren Baden-Württemberg ist gut angekommen. Was nicht so gut gelaufen ist, wie gedacht, war ein unterhaltsamer Beitrag zum Thema „Fit in den Frühling“. Wir haben in einem Jahr fast 50 Geschichten gemacht – das ist für ein kleines Team unglaublich viel. Mein Fazit, was ich aus diesem Jahr ziehe, ist: Ausprobieren, was die User in einer Stadt oder Region wollen, mutig sein, etwas wagen. Und: Geschichten erzählen!
Checkliste
- Ausprobieren und Ungewohntes wagen
- Ressorts sollten zusammenarbeiten
- Bei politischen Themen auf Menschen setzen
- Technik-Knowhow ist wichtig
- Basis-Tools reichen zu Beginn aus, werden aber ggf. eintönig
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