„Interaktion darf nie überfordern, aber auch nie langweilen“
von drehscheibe-Redaktion
Wer sich mit Erzählformen im Internet beschäftigt, stößt schnell auf das Schlagwort „nonlineares Storytelling“. Solche Geschichten sind ähnlich wie ein Computerspiel aufgebaut. Der Nutzer wird in einen virtuellen Ort geführt, an dem er selbst entscheiden kann, ob ihn zum Beispiel als nächstes ein Interview zum Oberthema der Geschichte interessiert, er ein Video mit Protagonisten sehen möchte oder einen Hintergrundtext lesen will. So kann er selbst in eine Geschichte eingreifen, das Erzähltempo bestimmen, einige Aspekte vertiefen andere auslassen. Vorreiter dieser Erzählform ist die Webreportage Prison Valley. In Deutschland hat Bernhard Riedmann vom Spiegel in seiner Reportage „Nicht von Gott gewollt“ mit nonlinearem Storytelling für das iPad experimentiert (Spiegel 17/2012). Die drehscheibe sprach mit ihm über seine Arbeit.
Herr Riedmann, Sie beschäftigen sich eingehend mit Webreportagen. Nun gibt es verschiedene Definitionen des Formats. Was genau verstehen Sie unter einer „Webreportage“, wie funktioniert sie erzählerisch?
Was eine „Webreportage“ ist, weiß ich leider selbst nicht so wirklich – eine Reportage, die im Internet zu finden ist? Ist das die passende Definition? Dann wären meine Stücke beispielsweise keine „Webreportagen“, da sie ausschließlich in der iPad-Ausgabe des Spiegel erscheinen. Ich sehe sie als multimedial erzählte, gelegentlich interaktiv angehauchte – aber sonst sehr klassische Reportagen. Gespräche mit Fahrgästen der Transsibirischen Eisenbahn über ihr Land; vier Portraits revolutionärer Ägypterinnen; die Geschichte eines lesbischen Fußballteams, das sich gegen Homophobie in Südafrika wehrt. Das sind eigentlich sehr klassische Erzählansätze.
Sie haben die Reportage „Nicht von Gott gewollt“ nonlinear erzählt. Was ist das Besondere daran? Ist sie nicht – zugespitzt gesagt – eine einfache Dokumentation, die in verschiedene Episoden unterteilt ist?
Ja, das ist sie tatsächlich – die „Zuspitzung“ verstehe ich eigentlich als Kompliment. Wenn Sie von einer Person in ein Gebäude geführt werden, selbst entscheiden zu können, in welche Türen Sie gehen; dort auf verschiedene Erzählformen zu treffen (Audioslideshows, Videos, Hintergrundkommentare, 360°-Fotos, Gesang, Animation, etc.) – und danach das Gefühl haben, Sie haben eine „einfache Dokumentation“ gesehen – dann habe ich meinen Job doch ganz gut gemacht. In der Welt meiner Geschichten muss sich alles einfach und natürlich anfühlen. Der Leser soll sich immer orientieren können, die Interaktion darf nie überfordern, aber auch nie langweilen.
Wie aufwändig war die Produktion und wie lange hat sie gedauert?
„Nicht von Gott gewollt“ war unsere erste Reportage in dieser Größenordnung, deshalb hat die Entstehung auch relativ lange gedauert, etwa drei Monate. Heute sind wir schneller. Für die reine Produktion brauchen wir kaum länger, wie ein Autor für einen großen Text braucht.
Wie läuft die Programmierung einer solchen Webreportage?
Die bisherigen Geschichten wurden von drei Kollegen, die jeweils auf Animation-, 3D- oder Panorama-Umsetzungen spezialisiert sind, zwei Grafikerinnen und zwei Programmierern gestaltet, in wechselnden Kombinationen. Ich habe keine Ahnung von Programmierung und Gestaltung. Trotzdem muss ich, zumindest abstrahiert, verstehen, was sie da machen – und umgekehrt. Viele unserer anfänglichen Probleme waren Kommunikationsprobleme.
Rechnet sich der Aufwand?
Das dürfen Sie mich nicht fragen. Vielleicht stellen Sie ja jemandem in fünf Jahren die Frage: „Rechnet es sich, nicht mit neuen Erzählformen zu experimentieren?“
Was ist die wichtigste Erfahrung, die Sie bei der Produktion gemacht haben?
Weniger ist mehr, besonders bei Interaktivität.
Glauben Sie, dass sich das Format als Erzählform im Internet durchsetzen wird? Planen sie weitere Reportagen in diesem Stil?
Es sind zwei interaktive Geschichten in den letzten Zügen, die hoffentlich im September erscheinen. Ab Mitte September recherchiere ich mit einer Kollegin für eine große multimediale Serie. Ich hoffe, das beantwortet Ihre Frage.
Interview: Katrin Matthes
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