Interview

„Keiner lebt vollständig in der digitalen Welt"

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Die Epoche von Print geht zuende. Papier ist tot. Von wegen! Papier ist geduldig und lebt noch eine Weile. Das meint zumindest Lothar Müller von der Süddeutschen Zeitung. In seinem Buch „Weiße Magie. Die Epoche des Papiers“ hat er sich mit diesem uralten Datenträger befasst. Auf der Re:publica, die Anfang Mai in Berlin stattfand, hielt er einen Vortrag dazu, in dem er seine Überlegungen zur Medientheorie des Papiers darlegte. Wir wollten von ihm wissen: Wie geduldig ist Papier wirklich? Welche Vor- und Nachteile bietet es gegenüber digitalen Datenströmen?

Herr Müller, auf der Re:publica über Papier zu sprechen, ist ein gewagtes Projekt.

Ja, das ist so ähnlich, wie wenn in den Frühzeiten des Automobils ein Inhaber eines alten Gestüts noch einmal über die Vorzüge der Pferdezucht räsoniert. Es ist aber trotzdem mehr. Papier ist das zweitleichteste Trägermedium, verglichen mit den heutigen elektronischen Datenströmen. Unsere kulturellen Routinen, mit denen wir in dieser Online-Welt, aber auch in unseren digitalen Schreib- und Rezeptionsprogrammen arbeiten, wurzeln zu großen Teilen in der sehr ausdifferenzierten Papierwelt. Es war eine ganze Epoche, in der das Papier in vielfältiger Form zirkulierte und auch als Vernetzungsmedium diente, so wie es jetzt die digitalen Technologien tun. Wenn man die Epoche des Papiers studiert, studiert man gleichzeitig die analoge Vorgeschichte von Vernetzung.

Nun geht man ja davon aus, dass die Epoche des Papiers ihrem Ende entgegengeht.

Das kann sein. Ich wäre nur sehr vorsichtig mit der Prognose, dass dies nun in den nächsten zehn, zwölf Jahren über uns hereinbricht. Es kann sein, dass auf dem Zeitungsmarkt Wettbewerber verschwinden. Es kann aber auch sein, dass sich  die großen Tageszeitungen den verbleibenden Anzeigenmarkt untereinander aufteilen. Und es ist möglich, dass sich kulturelle Hybridisierungseffekte entwickeln, von denen wir jetzt noch gar keine Ahnung haben. So wie wir arbeiten und konsumieren, sind wir Mischwesen aus analogen und digitalen Strategien, das gilt eigentlich für jeden von uns. Keiner lebt ganz in der digitalen, keiner vollständig in der analogen Welt.

Sie haben auch davon gesprochen, dass diese Vervielfältigung der Funktionen, die wir jetzt im digitalen Bereich erleben – also dass alles möglich ist, Verlinkungen, der Einbau von Videos in Artikel etc. – dass diese Vervielfältigung auch zu einem Problem werden könnte und dass man dies in den nächsten zehn Jahren erst einmal bewältigen müsse.

Das wird eine der wichtigsten journalistischen Aufgaben sein. Wir müssen entscheiden, an welchen Stellen wir welche Option nutzen – und wo wir nein sagen. Derzeit ist es zum Beispiel so, dass die iPad-Angebote der Süddeutschen Zeitung, die Sie abonnieren können und die sich an dem Printprodukt orientieren, nicht verbunden sind mit dem Angebot einer ständigen Aktualisierung. Das wäre technisch möglich. Es kann nun sein, dass die Leute zunehmend unwillig darauf reagieren und sagen, ich will diesen Ticker haben, der mir sagt, dass gerade Bin Laden erschossen wurde. Oder sie sind sowieso anderweitig online und wollen einen Raum haben, der frei ist von diesen Aktualisierungen. Gerade in dem Maße, in dem die Leute sowieso permanent online sind, werden möglicherweise Reservate, die nicht online sind, wieder attraktiv.

Kann die Abgeschlossenheit in Zeit und Raum, die das Papier mit sich bringt, sich also wieder in einen Trumpf verwandeln?

Ich glaube ja. Man muss es nur genauso klug bewirtschaften wie der Online-Journalismus es mit seinen Möglichkeiten tut. Die Zeitungen werden die Verspätung, die sie gegenüber den schnelleren Medien haben, in ihr redaktionelles Konzept hereinnehmen müssen. Das gelingt ja auch jetzt schon, wenn man sieht, wie es etwa gute Sportteile schaffen, dass auch am Montag noch Berichte von Samstagspielen gelesen werden. Die werden ja nicht wegen ihres Nachrichtenwerts gelesen. Die Vorstellung, dass Nachrichtenjournalismus das einzige ist, woraus eine Zeitung besteht, war noch nie richtig. Heute müssen wir uns überlegen, wie dieses Medium bewirtschaftet werden kann in Zeiten, in denen es umgeben ist von neuen Medien, die Teilfunktionen besser übernehmen können, wie etwa die permanente Aktualisierung. Damit kann die Zeitung nicht wirklich konkurrieren. Das sollte sie auch gar nicht erst versuchen. Wenn Sie aber ein Ereignis sehr früh und sehr schnell mit einem guten Kommentar, einer guten Beobachtung begleiten, dann haben Sie eine Chance. Also weg vom reinen Nachrichtenjournalismus – hin zu einem Autorenprinzip. In den angesprochenen Sportteilen sind es eben extrem gute Texte, die man gerne liest.

Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen räumen Sie dem Papier weiterhin Chancen ein. Woher der Optimismus?

Heute diskutieren wir den Begriff Post Digital Publishing. Es geht also nicht um ausschließlich digitales Publizieren. Es werden sich vielmehr Mischformen entwickeln, möglicherweise Nischenexistenzen, wie wir es etwa beim Vinyl erleben, für das es jetzt auch wieder einen Markt gibt. Wichtig ist: Die Tageszeitungen heute sind zwar Massenmedien, aber sie sind im Vergleich zur Internetkommunikation und zum Fernsehen in der Reichweite relativ begrenzt. Die Süddeutsche hat im Alltag vielleicht 400.000, am Wochenende 500.000 Exemplare. Vergleichen Sie das einmal mit den Einschaltquoten der TV-Sender! Gleichzeitig sind wir extrem wichtig für die gesellschaftliche Diskussion. Alle großen Debatten der letzten Zeit sind von Printmedien angestoßen worden: ob das Gutenberg war, Wulff oder Offshore Leaks, eine Kooperation von NDR und Süddeutsche Zeitung. Die öffentliche Meinung wird nach wie vor von einem nicht unwesentlichen Teil von Zeitungen mitgebildet.

Glauben Sie, dass Ihr Medium, die Süddeutsche Zeitung, in zehn Jahren noch auf Papier erscheint?

Ja.

Das Buch:
Lothar Müller: Weiße Magie
Die Epoche des Papiers
Hanser Verlag München, 384 Seiten
Preis: 24,90 Euro.
ISBN 978-3-446-23911-1

Lesen Sie auch das Interview mit Daniel Bröckerhoff zum Thema Open Journalism.

Lothar Müller

... ist Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung.

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