„Kontroversen gehören zur Demokratie“
von Stefan Wirner
Bedroht Cancel Culture die Demokratie? Davon ist Ulrike Ackermann überzeugt. Im Interview spricht die Soziologin über Tendenzen, die unsere freiheitliche Gesellschaft untergraben.
Frau Prof. Dr. Ackermann, was verstehen Sie unter dem Begriff „Cancel Culture“?
Der Begriff stammt aus den USA. Man kann ihn ganz wörtlich nehmen: Es geht darum, dass unliebsame Positionen, Personen, Ausdrücke verschwinden sollen. Diese Entwicklung beobachten wir in den USA schon länger, sie steht da in engem Zusammenhang mit dem Begriff „Political Correctness“. Man spricht in der radikalsten Form vom „Deplatforming“, wenn etwa Personen aus unterschiedlichsten Gründen – politischen oder moralischen – für unmöglich erklärt werden und verschwinden sollen. Im Extremfall heißt das, dass sie keinen Job mehr kriegen, dass sie abberufen werden, dass sie aus der Öffentlichkeit verschwinden. Und das lässt sich natürlich nicht nur auf Personen anwenden, sondern auch auf Wörter, die aus bestimmten Gründen gestrichen werden sollen.
Können Sie ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit in Deutschland nennen?
Es gab zum Beispiel den Streit an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, wo die Biologin Marie-Luise Vollbrecht in der „Nacht der Wissenschaften“ über Zweigeschlechtlichkeit sprechen sollte, eine Studierendengruppe aber der Meinung war, dass diese Frau transphob sei. Dann durfte sie zunächst nicht sprechen, es wurde darüber debattiert, später durfte sie dann doch, weil es wiederum Proteste gegen das Sprechverbot gab, übrigens erstmalig auch von der Wissenschaftsministerin.
Ist Cancel Culture an eine politische Richtung gebunden?
Es kann von verschiedenen Seiten kommen. Was wir aber in den vergangenen Jahren an den Hochschulen beobachten, kommt vor allem von links. Von Hochschul-Gruppierungen oder oft vom Asta zum Beispiel. Mit ist gerade selbst so etwas passiert. Ich war von dem Bildhauer Stephan Balkenhol an die Akademie für Bildende Kunst in Karlsruhe eingeladen, es ging um das Thema: „Wie frei ist Kunst?“. Da gab es im Vorfeld eine Kampagne einer kleinen Gruppe von Studenten, die den Vortrag sprengen wollte. Ich habe auch einen Workshop zum Thema gemacht, und es wurde dazu aufgerufen, den Workshop zu boykottieren, weil ich irgendwie rechts sei usw. Ein typischer Vorwurf übrigens. Ich will mich da gar nicht zum Opfer stilisieren, ich sage das nur als Beispiel. Es ist nur leider so, dass das, was ich in meinem letzten Buch „Die neue Schweigespirale“ beschrieben habe und woran ich auch drei Jahre geforscht habe, empirisch noch ausgeprägter ist, als ich es vermutet habe.
Wie ging der Fall in Karlsruhe aus?
Sie haben mich am Ende nicht am Vortrag gehindert, aber es gab eine lebendige Debatte, bei der die Rufe nach „Safe Spaces“ und „Triggerwarnung“ sehr laut waren.
Was bedeutet das?
Das sind zwei Elemente, die mit Cancel Culture zu tun haben. Der Begriff „Triggerwarnung“ stammt aus der Traumatherapie, damit wird suggeriert, dass man irgendwie traumatisiert werden könnte, wenn dies oder jenes gesagt wird. In Amerika ist das bereits viel ausgeprägter als bei uns. Da werden Triggerwarnungen an Bildern in Museen angebracht, Content-Hinweise, dass dieser oder jener Bildinhalt verstören könnte. Vor dieser Entwicklung warne ich. Denn auch wenn es sich um schreckliche Dinge handeln sollte, man muss sie anschauen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Wenn wir überall „Safe Spaces“ und „Triggerwarnungen“ haben, dann kann man sich mit den unangenehmen Seiten dieser Welt überhaupt nicht mehr auseinandersetzen.
Inwiefern stellt das alles eine Bedrohung für unsere Demokratie dar?
Wenn Debattenräume eingeschränkt werden, wenn die Grenzen des Sagbaren immer enger gezogen werden, wegen Political Correctness oder weil keine Gefühle verletzt werden sollen etc., dann hat das natürlich Folgen für unsere Demokratie. Denn gerade unsere liberale Demokratie ist ja historisch aus der Meinungsfreiheit und der Debattenkultur heraus entstanden. Debatten im Parlament, in der Gesellschaft, Kontroversen, all das gehört dazu. Wenn wir das nicht mehr zulassen und Angst davor besteht, dann rührt das an die Wehrhaftigkeit der Demokratie.
Welche Rolle spielen die Medien dabei?
In den Medien geht es zum Beispiel darum, wie gesprochen werden soll und welche Sprache sich durchsetzt. Stichwort Gendern. Auffällig ist, dass vor allem im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, insbesondere in Kultursendungen, eine Sprache verwendet wird, die in großen Teilen der Bevölkerung nicht auf Zustimmung stößt. Wenn die Kluft zwischen Meinung und Sprache der Bevölkerung zur veröffentlichten Meinung immer größer wird, dann entsteht natürlich Unmut. Das bezieht sich nicht nur auf die Gendersternchen. Es bezieht sich auch auf neue Sprachregelungen. Es geht darum, wie sich bei uns bestimmte Ideen von Gesellschaft durchsetzen. Das beginnt an den Hochschulen, in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, da spielt Sprache eine gewichtige Rolle. Und von dort fließt es in die Gesellschaft ein. Die Hochschulabgänger sind zukünftige Leistungsträger, sie gehen zu Redaktionen, zu NGOs, in die Politik und in die Wirtschaft, und dort wollen sie die Ideen, die sie an den Hochschulen gelernt haben, natürlich verbreiten.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Es geht um gesellschaftliche Konzepte, die sich hinter gewissen Sprachregelungen verbergen. Der Begriff „struktureller Rassismus“ fällt zum Beispiel in diese Kategorie. Da geht es nicht mehr um die einzelne rassistische Tat, die von jemandem begangen wird und geahndet werden muss, sondern es wird unterstellt, dass unsere gesamte Gesellschaft aufgrund unserer kolonialistischen Gesellschaft strukturell rassistisch sei.
Sehen Sie solche Tendenzen auch in der Berichterstattung von Lokalzeitungen?
Ich glaube, im Lokalen ist es anders. Lokaljournalismus schaut, wenn er gut ist, genau hin, was vor Ort los ist. Er ist empirisch profunder. Es gab zum Beispiel kürzlich in Frankfurt einen Fall, über den der Rhein-Main-Teil der FAZ sehr gut berichtet hat. Auf dem Campus war es zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen einer Gruppe von Transsexuellen und einer Feministin gekommen, dabei ging es um die Umbenennung von Toiletten. Je näher man als Journalist an der Realität dran ist, umso besser kann man dann schauen, was wirklich passiert ist. Darin liegt die große Chance des Lokaljournalismus.
Was würden Sie sich von Lokalredaktionen wünschen, wenn es zu Fällen von Cancel Culture in der Region kommt?
Sie sollten genau hinschauen, nachfragen, herausfinden, was die Hintergründe sind, und nicht einfach auf den Lautstärksten hören. In der Woke Culture treten kleine Minderheiten oft so laut auf, dass man den Eindruck bekommt, es handle sich um die Mehrheit. Aber in der Regel ist das gar nicht der Fall. Man sollte immer unterschiedliche Perspektiven berücksichtigen, gerade wenn es um Konflikte geht, und nicht mit einem ideologischen oder moralischen Überbau an die Sache herangehen.
Interview: Stefan Wirner
Das Interview erschien zuerst in der Ausgabe 3/23 der drehscheibe.
Link
Hier geht es zum John Stuart Mill Institut, das sich wissenschaftlich mit dem Thema Freiheit befasst: Zum Institut
Veröffentlicht am
Kommentare
Einen Kommentar schreiben