„Menschen können Arten ausrotten“
von Stefan Wirner
Der Rückgang der Artenvielfalt ist eine „erdgeschichtliche Umwälzung“, meint Chrisitan Schwägerl von den RiffReportern. Jede Lokalzeitung sollte sich mit dem Thema befassen.
Herr Schwägerl, früher betrachtete man Insekten als eine Plage, sogar als biblische, heute wollen alle die Insekten retten. Was ist da passiert?
Früher waren Insekten in der Tat eine Plage. Sie haben zuweilen unsere Ernährung gefährdet, Ernten vernichtet und manches mehr. Gleichzeitig waren sie aber auch unsere Lebensgrundlage. Das haben die Menschen früher vielleicht für selbstverständlich erachtet: was Insekten bei der Bestäubung von Kulturpflanzen, beim Stoffkreislauf und für die Grundlagen des Lebens leisten. Seit rund 100 Jahren aber führen wir nun einen chemischen Feldzug gegen die Insektenwelt, und das mit einer immer höheren Effizienz. Die Lebensräume von vielen Insektenarten wurden von der industriellen Landwirtschaft stark verändert, es wurde die chemische Keule in Form von Pestiziden eingesetzt, Stoffe wie Glyphosat etwa, die sich direkt gegen Pflanzen richten, wovon auch Wildpflanzen betroffen sind. Hinzu kommt noch die Überdüngung, die die Vielfalt der Wildpflanzen ebenfalls gefährdet. In der Summe werden die Insekten in unseren Breiten immer weniger. Und das fällt uns jetzt auf.
Es gibt auch Stimmen, die behaupten, das Insektensterben sei gar nicht so dramatisch. Was sagen die Fakten?
Es gibt inzwischen eine Vielzahl von methodisch guten Studien, die den Rückgang von Insektenarten zeigen. Die bekannteste ist die sogenannte Krefelder Studie, die über einen Zeitraum von 27 Jahren Stichproben von großer Zahl erhoben hat und dabei sehr klar zeigt, dass die Biomasse von Fluginsekten in dem Zeitraum um 75 Prozent abgenommen hat. Dass die Trendlinie nach unten geht, kann man in unseren Breiten nicht bestreiten.
Stimmt das Beispiel mit der Windschutzscheibe, an der früher nach einer Autofahrt viele tote Insekten klebten und heute nicht mehr?
Die Bauweise von Autos hat sich zwar geändert, heute muss nicht jede Kollision mit einem Insekt zu einem Aufprall führen. Aber wenn man alt genug ist, erinnert man sich, dass man früher als Kind an der Tankstelle den Eimer in die Hand gedrückt bekommen hat, um die Insekten von der Windschutzscheibe zu kratzen. Und das bei jeder Autofahrt. Es ist zwar kein Beweis, aber ein Indiz. Ein anderes Beispiel: Früher hat man sich fast geärgert, wenn man eine Wiese mit Löwenzahn gesehen hat. Nur Löwenzahn! Heute indes ist man schon froh, wenn man eine Löwenzahnwiese sieht. Die moderne Landbewirtschaftung hat die Wildblumenvielfalt massiv reduziert. Deswegen sieht man auch weniger Schmetterlinge.
Der jüngste UN-Bericht zur Artenvielfalt spricht ja sogar von einem Artensterben. Wie dramatisch ist die Lage?
Es sterben grundsätzlich ja immer Arten aus, man nennt das die natürliche Aussterberate. Jede Art hat nur eine bestimmte Verweildauer auf der Erde. Aber was derzeit passiert, ist um das Zehn- oder sogar Hundertfache erhöht. Ungefähr acht Millionen Arten gibt es schätzungsweise, und davon sei rund eine Million in der Existenz bedroht, heißt es. Das ist eine erdgeschichtliche Umwälzung. Wir Menschen sind in der Lage, Arten auszurotten, und wir betreiben eine Wirtschaftsform, die das enorm beschleunigt.
Worauf sollten Lokaljournalisten ihr Augenmerk richten? Wenn ich etwa in Bayern auf einem Berg stehe, kann ich meist wunderbare Landschaft bewundern. Wie kann ich für etwas sensibilisieren, das man nicht auf den ersten Blick sieht?
Als Lokaljournalist kann man Dinge sichtbar machen. Zumindest ein Kollege in der Redaktion könnte sich ja mit den Arten, mit der Landschaft, mit der Geologie der Gegend vertraut machen. Das gehört zu einem Lokaljournalismus, der unsere Welt beschreibt, dazu. Und dann öffnen sich auch die Augen, etwa wenn ich mich mit der Geschichte der Landschaft beschäftige: Da war früher eine Blumenwiese, ein Auerhuhn-Biotop, und jetzt befinden sich da ein Maisacker und ein Gewerbegebiet. Man kann das örtliche Gedächtnis anzapfen. Ältere Menschen befragen, wie die Natur in der Region früher aussah. Da kann es sein, dass sie erzählen, wie viele Rebhühner früher frei herumliefen, und heute sieht man keines mehr. Der Artenschwund ist nichts Abstraktes wie etwa CO2, was man nicht sieht. Der Schwund an Vielfalt ist deutlich sichtbar. Wenn der Mensch auf dem Berg in Bayern eine grüne Wiese sieht, sollte er eben wissen, dass diese Wiese früher einmal bunt getüpfelt war vor lauter Wildblumen.
Einige Lokalzeitungen sind selbst aktiv geworden und verteilen Wildblumensamen an ihre Leser. Ist das hilfreich?
Ich finde es einen tollen Ansatz für den Lokaljournalismus: Was kann jeder Einzelne tun? Nur sollte man genau hingucken. Denn es werden auch billige Blühmischungen unters Volk gebracht, die zum Beispiel standortfremde Arten enthalten. Da würde ich mich vorab mit einem Naturschutzverband, einer Universität oder einem Botaniker in Verbindung setzen und erkunden, was eine regional passende Blühmischung wäre. Man könnte sich auch mit der Frage dieser leblosen Schottergärten auseinandersetzen, die in Mode gekommen sind. Was bewegt die Menschen, solche Gärten anzulegen? In den Gemeinde- und Stadträten sollte man absolut wachsam sein, wenn es um Bebauungspläne geht, um die kommunalen Flächen, um die Boden- und Wasserwirtschaftsverbände. Es gibt viele Akteure, die die Landschaft prägen, über die aber selten geschrieben wird. Genau hinhören und die richtigen Fragen stellen – das kann ungeheuer spannend sein.
Kann aber auch zu Konfrontationen führen.
Klar, aber das gehört ja zu unserem Job. Wir Journalisten sagen ja nicht, dass wir die Pro-Bienen-Fraktion sind, sondern wir sagen: Das ist ein Thema. Wir stellen die unterschiedlichen Positionen zu diesem Thema vor. Warum will der Wasserverband das Moor weiter trockenlegen? So erfahren die Leser davon und können sich eine Meinung bilden.
Also sollten Verlage neben den Digital-Experten auch Umweltexperten haben?
In jeder Lokalredaktion sollte es einen geben, der das Thema Umwelt verfolgt – das kann ja auch ein Digitalredakteur sein. Wir sprechen von Existenzfragen. Katrin Böhning-Gaese, Direktorin des Biodiversitäts- und Klimazentrums Senckenberg, hat darauf hingewiesen: Wenn man den CO2-Ausstoß vermindert, ist das zwar toll, aber man merkt es vor Ort kaum. Wenn eine Kommune aber ihre Artenvielfalt verdoppelt, dann sehen die Menschen das sofort. Uns tun ja Grünflächen, Vogelgesang, Erholung in der Natur gut. Wenn man etwas für die Artenvielfalt tut, verbessert man unsere Lebensbedingungen direkt. Und das zu begleiten, ist ein spannender Prozess für Lokaljournalisten.
Interview: Stefan Wirner
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