„Oberste Priorität hat der Opferschutz“
von Stefan Wirner
Der Missbrauchsskandal von Lügde erschüttert ganz Deutschland. Auf dem Campingplatz „Eichwald“ in Elbrinxen wurden über Jahre hinweg zahlreiche Kinder im Alter von vier bis 13 Jahren sexuell missbraucht. Nah dran an dem Fall ist die Lippische Landes-Zeitung. Wir sprachen mit Redaktionsleiter Dirk Baldus über das Vorgehen der Redaktion und eine außergewöhnliche Zusammenarbeit.
Herr Baldus, wie hat Ihre Redaktion reagiert, als der Fall Lügde bekannt wurde? Hatten Sie eine Art Notfallplan in der Tasche?
Einen Plan für einen Fall in dieser Dimension, der sich über so einen langen Zeitraum erstreckt – wir beschäftigen uns damit jetzt seit über sieben Wochen – den kann man, glaube ich, nicht haben. Auf andere Großereignisse sind wir vorbereitet, aber wenn eine Redaktion so lange derart viele Ressourcen nutzen muss, kann man Vieles nur im Tun selbst entwickeln.
Wie lief es in Ihrer Redaktion ab, als der Fall bekannt wurde?
Wir sind das Ganze systematisch angegangen und haben eine tägliche Runde anberaumt, in der jeden Morgen alle Ergebnisse zusammengetragen werden und in der das Rechercheteam, Online- und Videoexperten sowie Fotografen zusammenkommen, um gemeinsam abzustimmen, wie es weitergeht. Viele Dinge entwickeln sich im Laufe eines Tages, oft lässt sich erst am frühen Abend, um 18 oder 19 Uhr, einschätzen, welche Recherchen zum Erfolg geführt haben. Dementsprechend muss dann noch mal neu geplant werden.
Wie sind Sie ganz am Anfang vorgegangen?
Wir waren sofort vor Ort und haben mit Bewohnern des Dorfes gesprochen. Das ist ja unsere Stärke, dass wir schnell da sind und die Menschen uns vertrauen. Es sind sehr schnell weitere Details ans Tageslicht gekommen. Der erste Zeuge sagte beispielsweise gegenüber uns aus, dass es schon Jahre vorher Hinweise auf ein auffälliges Verhalten des Hauptverdächtigen gegeben habe.
Sie haben sich dann dazu entschlossen, Partner für die Berichterstattung zu gewinnen, unter anderem das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Warum?
Das Redaktionsnetzwerk ist gut verdrahtet, nicht nur in journalistischen Kreisen, sondern auch in der Politik. Wir hingegen haben die lokale Kompetenz und die Stärke vor Ort. Wir kennen die örtlichen Ansprechpartner. Mein Gedanke war: Wenn wir uns zusammentun, sind wir vielleicht noch stärker.
Und das hat funktioniert?
Ja, es funktioniert. Zunächst ging es ja darum, dass man sich untereinander kennenlernt und sich über gewisse Spuren, Hinweise etc. austauscht. Man schließt sich kurz, telefoniert, schreibt Mails und hält sich gegenseitig auf dem Laufenden. Wir sprechen ja inzwischen über einen Fall, in den Landesregierungen als oberste Dienststellen der Kreispolizeibehörden involviert sind.
Das heißt, Sie tauschen sich völlig uneitel untereinander aus, auch Rechercheergebnisse?
Offenheit ist die Grundlage. Sie hilft ja beiden Seiten. Dazu gehören vertrauensvolle Gespräche, in denen man klar macht, dass es nicht darum geht, den anderen zu übervorteilen. Dann nimmt man auch in Kauf, dass man sich Exklusivität teilt. Wie beim Bericht über eine Zeugin, die schon viele Jahre zuvor missbraucht worden ist.
Ist der Fall jeden Tag Thema in Ihrer Redaktionssitzung?
Ja. Wir haben, wie erwähnt, diese Extrarunde gebildet, die nochmal jenseits der herkömmlichen Themenplanung erörtert, wie es weitergeht. Da sitzen all die zusammen, die sich mit dem Fall befassen, auch meine Kolleginnen Silke Buhrmester und Seda Hagemann aus der Führungsmannschaft. Das sind insgesamt acht bis zehn Kolleginnen und Kollegen. Als Chef muss Dir sehr schnell klar werden, dass dieser Fall absolut Vorrang hat, und wenn es sein muss, werden Kolleginnen und Kollegen von der Tagesarbeit befreit, um sich kümmern zu können.
In welchen journalistischen Formaten berichten Sie über Lügde?
In vielfältigen Formaten. Wir bringen viel online, zum Teil kostenlos, aber auch hinter der Bezahlschranke. Videos spielen eine wichtige Rolle, in Print haben wir unter anderem eine umfangreiche Panoramaseite veröffentlicht, auf der wir alle Informationen chronologisch gebündelt dargestellt haben. So kann sich jeder Leser noch einmal ein Bild dieses sehr komplexen Falls machen, was Verdächtige angeht, die Rolle der Politik, der Behörden.
Wie lange kann man diese Intensität der Berichterstattung neben der normalen Arbeit aufrechterhalten?
Man muss Prioritäten setzen und an der einen oder anderen Stelle auch mal Mut zur Lücke haben. Wir könnten uns theoretisch personell gar nicht so schnell verstärken, das muss anders organisiert werden. Aber die Kolleginnen und Kollegen sind wahnsinnig engagiert, man spürt dieses Bedürfnis, weiter zu recherchieren und an der Aufarbeitung des Falls mitzuwirken. Dieser innere Antrieb ist ja meist auch der Grund, warum man Journalist geworden ist.
Besteht die Gefahr, dass man zu reißerisch wird? Was muss man da in der Berichterstattung beachten?
Oberste Priorität hat für uns, dass wir das Schicksal dieser vielen Kinder – 31 sind es ja bisher – im Hinterkopf behalten, dass wir unsere Verantwortung wahrnehmen und den Opferschutz beachten. Und sicherlich muss man sich auch fragen, ob man in jeden Gesang miteinstimmt.
Wie meinen Sie das?
Volkes Meinung ist bei so einem Fall oft sehr radikal, die Emotionen spielen eine große Rolle. Nichtsdestotrotz müssen wir unsere Sorgfaltspflicht in den Vordergrund stellen.
Gab es Probleme mit den überregionalen Medien? In vergleichbaren Fällen hat man ja immer wieder Beschwerden über die Kollegen aus dem überregionalen Bereich gehört.
Wenn man den typischen Helikopterjournalismus betrachtet, der sich hier in den vergangenen Wochen herausgebildet hat, von Fernsehsendern und anderen, bereitet uns dieser nur ein Problem: Einige benehmen sich daneben, und wir müssen das Vertrauen zurückgewinnen. Aber ehrlich gesagt waren wir meist auch schneller als die Kollegen. Als die meisten Sender kamen, waren wir schon wieder weg. Das ist eben der Vorteil der Nähe. Wir haben insofern gute Erfahrungen gemacht, als dass man uns durchaus auch als Quelle genannt hat, was ja nicht immer der Fall ist. Da hört man ja auch andere Geschichten.
Was würden Sie Kollegen von einer anderen Lokal- oder Regionalzeitung raten, die mit einer ähnlichen Geschichte konfrontiert werden?
Wichtig ist es, nie hektisch zu werden, auch wenn die Situation auf dem ersten Blick danach schreit. Man muss alles gut überdenken, und man darf nie aus den Augen verlieren, dass man weiterhin mit den Menschen in der Region zusammenleben wird.
Interview: Stefan Wirner
Hier geht es zum Liveticker im Fall Lügde der LZ.
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