„Politik ist besser als ihr Ruf"
von Stefan Wirner
Unsere Demokratie ist einem ständigen Wandel unterworfen. Das Wahlverhalten ändert sich, neue Parteien entstehen, das Internet verändert die Diskussionsprozesse. Wie sollte die Politik damit umgehen? Und welche Rolle könnten Lokalzeitungen bei der Vermittlung politischer Inhalte spielen? Die drehscheibe sprach darüber mit dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Norbert Lammert.
Sehr geehrter Herr Dr. Lammert, bei der Bundestagswahl im Jahr 1972 gab es eine Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent. Bei der letzten Bundestagswahl 2009 lag sie nur noch bei 70,8 Prozent. Werden die Deutschen immer skeptischer, was die Bedeutung von Wahlen betrifft?
Natürlich ist mir eine hohe Wahlbeteiligung lieber als eine niedrige. Hohe, zunehmende Stimmenthaltungen sind ein Anlass, das Verhältnis zwischen Politik und Bürgern kritisch zu hinterfragen. Sich nicht an den Wahlen zu beteiligen, muss jedoch nicht zwangsläufig Ausdruck von politischem Desinteresse sein, im Gegenteil: Eine gezielte Stimmenverweigerung ist hochpolitisch. Stärker womöglich als Skepsis gegenüber der Bedeutung von Wahlen bringen Nichtwähler eine konkrete Unzufriedenheit mit der Politik zum Ausdruck. Fachleute sehen in der sinkenden Wahlbeteiligung allerdings auch eine Normalisierung. Weltweit gesehen hat Deutschland nämlich bei Bundestagswahlen weiterhin sehr hohe Beteiligungswerte, deutlich höhere als in manchen Ländern mit langer und stabiler demokratischer Tradition.
Wie können Lokalzeitungen dazu beitragen, dass wieder mehr Menschen vom Wählen überzeugt sind?
Kurios ist: Obwohl die Bürger in der Lokalpolitik den direktesten Einfluss in unserer Demokratie haben, ist die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen am niedrigsten. Demokratie beginnt aber vor Ort in den Kommunen. In den Städten und Gemeinden werden die praktische politische Arbeit und das Ergebnis einer Abstimmung unmittelbar sichtbar. Lokalzeitungen, die für diese bürgernahe Politik vor Ort die größtmögliche Öffentlichkeit herstellen sollten, haben dabei die geradezu staatsbürgerliche Aufgabe, auf kommunaler Ebene Verständnis für Grundsätzliches zu vermitteln: für den Streit als Voraussetzung jeder demokratischen Willensbildung, für zähe Entscheidungsprozesse, die womöglich stören, jedoch im Sinne eines fairen Interessenausgleichs notwendig sind, für Kompromisse, die nie alle zufriedenstellen, aber eine unaufgebbare demokratische Tugend sind.
Einerseits gibt es eine hohe Politikverdrossenheit, andererseits stoßen immer wieder neue, unkonventionelle Parteien – wie etwa zuletzt die Piratenpartei – auf großen Zuspruch. Was machen die anderen Parteien falsch? Oder werden sie von den Medien falsch dargestellt?
Dass sich in einer freien Gesellschaft neue Parteien bilden, zur Wahl stellen und in die Parlamente einziehen, ist vollkommen legitim und Nachweis dafür, dass unsere parlamentarische Demokratie funktioniert. Veränderte Beteiligungsinteressen, Ziele und Wünsche erfordern von den etablierten Parteien natürlich einen anhaltenden Prozess der Wandlung und der Anpassung. Sonst verlieren sie die gerade für Volksparteien unabdingbare Verankerung in der Breite der Bevölkerung. Man sollte manche Entwicklung aber auch nicht für so neu halten, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Vieles, was jetzt mit Blick auf die Piraten für ein Urereignis gehalten wird, hat beim Auftreten der Grünen, dem Prototyp einer Anti-Parteien-Partei, weit spektakulärer stattgefunden. Am Ende sind sie durch unser parlamentarisches System stärker verändert worden als dieses System durch sie.
Gerade junge Leute neigen eher zu Politikformen jenseits des Parlamentarismus – von Attac bis zur „Liquid Democracy“, die von Internetaktivisten propagiert wird. Was kann die repräsentative Demokratie von diesen Bewegungen lernen?
Wir brauchen weder eine flüssige noch eine zähe, sondern eine vitale Demokratie. Dazu tragen außerhalb der Parlamente und neben den Parteien natürlich unzählige private Gruppierungen, Initiativen und Bürgerbewegungen bei. Jede Bereitschaft gerade jüngerer Leute, die öffentlichen Angelegenheiten als ihre eigenen Belange zu begreifen, verdient Respekt und Ermutigung. Allerdings kenne ich kein besseres System als das parlamentarische, um im freien gesellschaftlichen Wettbewerb unterschiedlicher, teils widerstreitender Anliegen, Wünsche und Ziele am Ende mehrheitlich getragene Entscheidungen fair und verbindlich herbeizuführen.
Haben die Parteien die Bedeutung des Internets für ihre Selbstdarstellung in ausreichendem Maße erkannt? Oder gibt es da noch Nachholbedarf?
Das Internet wird bereits heute von den Parteien und Politikern als eine wichtige Form der Kommunikation mit den Bürgern genutzt. Aber es gibt hier natürlich für sie – wie im Übrigen auch für viele andere gesellschaftliche Akteure – sicherlich immer noch einiges zu verbessern. Ich denke etwa an die Informations- wie die Mobilisierungspotenziale des Internets.
In manchen Gegenden Deutschlands haben zuletzt auch rechtsextreme Parteien große Erfolge errungen, wie etwa in Mecklenburg-Vorpommern. Wie sollten die Medien in Wahlkampfzeiten mit diesen Parteien umgehen?
In einem freien Land können wir nicht verhindern, dass auch Extremisten mit rassistischen und ausländerfeindlichen Parolen durch die Straßen ziehen. Darüber muss fair berichtet werden. Aber demokratische Medien müssen ihnen nicht auch noch ein publizistisches Forum für ihre kruden Ansichten bieten. Ihnen kommt vielmehr die Aufgabe zu, konsequent aufzuklären. Vielerorts sind es gerade Lokaljournalisten, die sich im Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit vor Ort engagieren. Das findet meinen großen Respekt.
Eine letzte Frage: Politiker sind meist viel beschäftigte Menschen, die für ihren Beruf sehr viel an Privatleben opfern. Warum zählen sie dennoch zu den unbeliebtesten Berufsgruppen Deutschlands?
Das Ansehen von Politikern entspricht tatsächlich bei Weitem nicht dem, was sie leisten. Auch die Medien sind daran nicht ganz unbeteiligt, denn es gibt einen bemerkenswerten Unterschied im Urteil der Bürger zwischen dem medial vermittelten Bild von „den Politikern“ und dem Abgeordneten, den man aus dem eigenen Wahlkreis persönlich kennt. Ich denke, unsere Politik, unsere Parlamente und unsere Abgeordneten sind viel besser als ihr Ruf – aber offensichtlich nicht so gut wie die Erwartung der kritischen Öffentlichkeit an ihre Arbeit. Diese Einschätzung scheint im Übrigen ja auch auf die Journalisten zuzutreffen, die bei entsprechenden Umfragen regelmäßig nicht besser abschneiden als die Politiker.
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