„Viele wenden sich mit Hilferufen an uns“
von Stefan Wirner
Antisemitismus habe immer etwas mit falschen Informationen zu tun, meint Annette Seidel-Arpacı von RIAS, einer Meldestelle für antisemitische Vorfälle. Das sehe man derzeit auch am Nahost-Konflikt.
Frau Seidel-Arpacı, Sie dokumentieren bei RIAS antisemitische Vorfälle. Was hat sich seit der Verschärfung der Lage in Nahost verändert?
Was sich auf jeden Fall verändert hat, ist die Anzahl der Menschen, die sich an uns wen- den und antisemitische Vorfälle melden. Dazu muss man sagen, dass dies bereits am Abend des 7. Oktobers anfing. Also bereits am Abend dieses furchtbaren Massakers kamen die ersten Meldungen herein, die sich darauf bezogen. Da wurde zum Beispiel das Massaker gutgeheißen, oder es gab Drohanrufe bei israelischen Restaurants mit der Frage: „Habt ihr eigentlich Messer?“ – „Wieso Messer?“ – „Damit ich alle Israelis erstechen kann.“ – Das war in einem Moment, als die israelische Armee überhaupt noch keine Verteidigungsmaßnahmen ergriffen hatte. Die Anzahl der Meldungen ist inzwischen so groß, dass wir mit der Bearbeitung kaum hinterherkommen. So viele Meldungen hatten wir noch nie seit unserer Gründung 2019. Hinzu kommt, dass sich auch viele Menschen mit Bitten um Rat an uns wenden, mit Hilferufen. Es geht auch darum, diese Menschen zu unterstützen.
Es heißt ja, dass in Kriegen „die Wahrheit zuerst stirbt“, also dass von vielen Seiten Falschinformationen verbreitet werden. Inwiefern spielt das momentan beim Thema Antisemitismus und Naher Osten eine Rolle?
Im Grunde geht es beim Thema Antisemitismus immer um falsche Informationen. Es geht dabei ja nie um quasi richtige Informationen über Juden, sondern es ist immer ein Ausdruck von Denken über Juden. Derzeit stellen wir fest, dass vielerorts die Annahme kursiert, dass das sowieso alles nicht stimmt, was zum Beispiel über das Massaker der Hamas berichtet wird. Oder dass nur Teile davon stimmen und Israel übertreiben würde. Selbst wenn die Israelis Video- oder Tonaufnahmen präsentieren. Man geht davon aus, dass man Israelis sowieso nichts glauben kann, was natürlich an die Idee anknüpft, die bereits von Luther propagiert wur-de: Die Juden lügen. Und es setzt sich fort in Bezug auf den Versuch der israelischen Armee, die Hamas zu zerschlagen und die Geiseln zu befreien. Das prominenteste Beispiel ist vielleicht die Meldung von dem angeblich bombardierten Krankenhaus im Gaza-Streifen. Diese Meldung wurde ja von der Hamas, ihrem sogenannten Gesundheitsministerium, verbreitet und weithin übernommen. Leider auch ohne Überprüfung von vielen Medien. Es ist sowieso erstaunlich, dass oftmals die Meldungen der Hamas einfach so weitergegeben werden. So was hätte man nie getan, wenn es sich um Meldungen der IRA in Irland oder der RAF gehandelt hätte.
Wir erleben ja derzeit landauf, landab viele Demonstrationen propalästinensischer Gruppen. Wo verläuft die Grenze zum Antisemitismus, wenn jemand beispielsweise gegen das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza protestieren will?
Das ist schwierig zu sagen. Wir von RIAS beobachten die Demonstrationen und Kundgebungen, und mir ist nur eine Versammlung in Erinnerung, auf der keine antisemitischen Äußerungen getätigt wurden. Das war eine Gedenkkundgebung wegen des erwähnten, angeblich bombardierten Krankenhauses. Antisemitismus hat bei fast allen Demonstrationen eine Rolle gespielt. Das fängt damit an, dass man sagt, das Massaker – ein Pogrom an Juden – sei eine Form des berechtigten Befreiungskampfes gewesen. Bei allen diesen Versammlungen spielte die Parole „From the river to the sea – Palestine will be free“ eine Rolle. Die Parole drückt aus, dass man vom Jordan bis zum Mittelmeer einen palästinensischen Staat will – und damit eben kein Israel mehr, sondern seine Auslöschung. Inzwischen ist der Spruch auf Demonstrationen ja verboten.
Wenn Sie sich die Berichte über diese Proteste ansehen: Was fällt Ihnen daran auf?
Was auffällt und was schon vor dem 7. Oktober so war: Meistens wird Israel als Täter dargestellt. Israel bombardiert, Israel macht dies und das etc. Meist wird nicht erwähnt, dass es dabei um eine Reaktion, um Verteidigungsmaßnahmen geht. Es ist ja nach wie vor so, dass Israel jeden Tag massenhaft aus dem Gazastreifen und auch aus dem Libanon mit Raketen be- schossen wird (Stand 10. November, die Red.). Von der Hamas aber wird keine Feuerpause verlangt. Es wird auch nicht nachgefragt, wie es sein kann, dass über 200 Menschen, inklusive neun Monate alter Kleinkinder, verschleppt werden und hier nicht das Rote Kreuz, die UN oder sonst wer einen Aufstand macht. Außer- dem wird eher selten darauf eingegangen, wie es jüdischen Menschen hierzulande geht. Wie erleben sie die Angriffe auf Israel? Wie gehen sie damit um, wenn sie möglicherweise dort Freunde oder Verwandte haben? Wie erleben sie den Antisemitismus, der bei uns hierzulande rasant zunimmt? Das bekommt viel zu wenig Platz. Man könnte ja auch bei israelischen Restaurants oder jüdischen Gemeinden nachfragen, wie das bei ihnen alles so ankommt in diesen Tagen.
Momentan ist viel die Rede von den unterschiedlichen Formen des Antisemitismus: von migrantischem, rechtem und linkem. Wie schätzen Sie die unterschiedlichen Erscheinungsformen ein?
Wir unterscheiden nicht entlang dieser Kategorien, sondern teilen unter anderem ein nach erstens dem alten religiös begründeten Antijudaismus, zweitens einem Antisemitismus nach oder wegen des Holocausts mit der typischen Erinnerunsgabwehr und Täter-Opfer-Umkehr und drittens dem modernen Antisemitismus, der sich mit der Industrialisierung gebildet hat, wo Verschwörungsdenken eine große Rolle spielt, nach dem Motto, die Juden besäßen die Macht über die ganze Welt. Und dann sehen wir viertens eben auch noch den israelbezogenen Antisemitismus. Wir versuchen dann einzuordnen, aus welchen gesellschaftlichen Schichten oder Gruppen der jeweilige Antisemitismus kommt. Wobei man es nicht immer genau sagen kann. Was wir aber seit dem Massaker am 7. Oktober beobachten, kommt sehr viel aus einer arabischen und zunehmend aus einer türkischen Ecke, was man auch anhand der türkischen Fahnen auf den Demonstrationen feststellen kann. Aufgefallen ist uns bei den Kundgebungen und Demonstrationen, dass sie derzeit viel mehr religiös geprägt sind, etwa in Parolen und Gesten. Und dazu kommen dann noch ein paar sogenannte „Querdenker“ und einige linke „Antiimperialisten“.
Woher nehmen Sie die Zuversicht, dass es eines Tages auch mal wieder besser werden könnte?
Wir schöpfen erst mal Kraft aus dem Team, denke ich. Was mir außerdem Kraft gibt, ist die Beobachtung, dass es hier in Deutschland mehr als vor einigen Jahrzehnten auch eine kleine Gegenbewegung gibt, junge Leute, die sich mit Antisemitismus beschäftigen und dagegenhalten. Das ist zum Beispiel in den USA und Großbritannien viel weniger der Fall. Das ist tröstlich, auch wenn der Gegenpol noch sehr zu klein ist.
Interview: Stefan Wirner
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