„Wir erleben einen Rückzug ins Lokale“
von Clemens Niedenthal
Jörg Reuter, Sie denken hauptberuflich über die Zukunft unserer Ernährung nach. Finden Sie in diesen Tagen überhaupt noch klare Gedanken?
Zunehmend wieder. Ich hab mir jetzt auf dem Desktop einen Ordner mit dem Namen „Post-Corona-Szenarien“ angelegt, um meine Gedanken zu sammeln. Was etwa nachhaltige, regionale Ernährung angeht, kamen wir ja gerade von einem Allzeithoch. Da war ein Greta-Effekt tatsächlich spürbar. Die Leute haben bewusst eingekauft, sowohl aus einer hedonistischen Lust heraus, als auch mit einem politisch-ökologischen Bewusstsein. Ist das jetzt alles weg? Ich glaube nicht. Es wird aber sicher davon abhängen, wie lange diese Krise dauert.
Was wären dann die Szenarien?
Dauert die Krise kurz, aber das wird sie ja schon nicht mehr, machen alle weiter wie zuvor. Nach sechs oder acht Wochen werden wir ausgehungert in die Restaurants und Biergärten rennen, es könnte einen geradezu überschwänglichen Sommer geben. Geht der Ausnahmezustand noch länger, werden, verkürzt gesagt, die Discounter die großen Gewinner. Dann siegt die Angst, oder zumindest die Verunsicherung.
Erleben wir deshalb einen Rückzug ins Lokale?
Klares Ja. Die Leute suchen und brauchen diese Beziehungsnähe. Bis dato sagten die Menschen zwar oft regional, meinten damit aber vor allem eine emotionale Nähe. Wenn ich in meinem Lebensmittelladen in Berlin-Mitte, den ich nebenbei auch noch betreibe, die Geschichte von Isabella, der Schinkenbäuerin aus Apulien erzählt habe, hat nachher zumindest keiner gesagt, wie, das ist doch 2000 Kilometer weit weg.
Künftig wird das Lokale also konkreter?
Nach Corona erlebt die Um-den-Kirchturm-Regionalität eine Renaissance. Wir ahnten das ja das schon mal bei der Bankenkrise – diesen Rückzug in den Nahbereich. 2015 kam dann das Flüchtlingsthema und hat viele Menschen verunsichert, auch intellektuelle Menschen. Viele suchen deshalb ein Umfeld, und das meine ich jetzt nicht dumpf-xenophob, das sie verstehen und gestalten können. Denken Sie nur an die ganzen ehrenamtlichen Flüchlingshelferinnen und -helfer oder in diesen Tagen an die Empathie, mit der sich die Menschen im Großen und Ganzen begegnen.
Die Schinkenbäuerin muss also künftig aus dem Nachbardorf kommen?
Konkret fällt mir da ein Bio-Bauer aus dem Oderbruch ein. Der hat unter anderem 300 Hühner. Was er denn mit den Eiern mache? Die verkauft er alle an seine Nachbarn, am Ende der Welt und für 40 Cent das Stück. Die Leute haben erkannt, dass das wichtig ist, dass jemand im Ort wieder Hühner hält.
Es gibt ein neues Miteinander?
Da bin ich mir sicher. Mal abgesehen von den paar Leuten, die jetzt ihre Nachbarn anschwärzen, weil die vielleicht mal zu viert auf der Terrasse sitzen. Dieses Denunziatorische, das in die deutsche Geschichte verweist und auch darauf, warum Staaten wie Ungarn dieser Tage mit ihrer repressiven Corona-Politik durchkommen, macht mir nichtsdestotrotz Angst. Grundsätzlich aber erkenne ich da ein neues, tief wurzelndes Wir-Gefühl.
Wer ist dieses Wir? Die Familie, meine Community, die Nation?
Ich habe schon das Gefühl, dass gerade eine breite Mehrheit der Bevölkerung zufrieden mit Deutschland ist. Wir haben ja aus gutem Grund da ein eher verklemmtes Verhältnis zu. Jetzt feiern wir etwa unsere Wissenshaft. An die Stelle eine Nationalstolzes tritt die Dankbarkeit für ein, mit Abstrichen, funktionierendes Gemeinwesen.
Vieles, was vor Ort identitätsstiftend wirkt, funktioniert aber gerade nicht, das kulturelle Leben beispielsweise.
Meine Frau und ich waren kürzlich bei einem Auftritt der Brause-Boys. Via Livestream von unserem Sofa am Berliner Stadtrand aus. Gleichzeitig haben wir mit unseren Nachbarn, die das auch geguckt haben, noch geskyped. Am nächsten Morgen schrieben die dann: Mensch, das war so schön, lass uns doch, wenn alles vorbei ist, mal wieder zusammen auf ein Konzert gehen. Und ich dachte mir: Eigentlich fand ich das genau so viel schöner.
Das Öffentlich wird also privat?
Das wäre ein kulturpessimistischer Blick auf die Möglichkeiten der Digitalisierung. Ich sage viel eher: Der Schwung, den die Digitalisierung gerade dank Corana erfährt, als Informationsmedium, als Unterhaltungsmedium, als Infrastruktur, den müssen wir unbedingt mitnehmen. Die Deutsche Oper streamt jetzt ihre Aufführungen, weil keine Berliner*innen in die Oper können. Im Oderbruch, um dieses Beispiel aufzugreifen, gibt es per se keine Oper. Aber es gibt Internet.
Sie skizzieren den ländlichen Raum als einen Corona-Gewinner.
Das hängt mit der neuen Sehnsucht der Menschen nach einer neuen Überschaubarkeit zusammen. Und natürlich mit den Glasfaserkabeln. Ich hatte bisher rund 60 berufliche Reisetage im Jahr. Und bin mir sicher, dass das im kommenden Jahr allenfalls 30 sein werden. Selbst die CEOs wirklich großer Unternehmen sitzen gerade in ihren Zoom-Konferenzen und merken, dass das ja auch funktioniert. Tatsächlich glaube ich, dass dieser Mythos des ortslosen, kosmopolitischen Lebens ein Fetisch der heute 30- bis 50-Jährigen ist, zumal der gut ausgebildeten. Meine Kinder wollen sicher auch mal einen guten Job, mit spannenden Inhalten, aber sie werden dafür nicht mehr so selbstverständlich alle fünf Jahre ihre soziale und emotionale Heimat aufgeben.
Jetzt ist der Begriff Heimat also gefallen.
Weil es am Ende dieser Nahraum ist, der uns bleibt, wenn die Welt zu Wanken beginnt und die berufliche Karriere sowieso. Dann einen solchen Ort zu haben, das wäre schon mal ziemlich viel.
Die Wachstumsutopie der Nachkriegsmoderne, auch das hat Corona offenbart, ist also endlich?
Der Begriff Post-Wachstum wabert ja schon ein paar Tage durch die Köpfe und die Feuilletons. Und natürlich wird das jetzt eines der großen Themen: mit Weniger zufriedener zu sein. Klassische Statussymbole verflüchtigen sich zunehmend. Autos sind vielen schon egal, nach Corona werden wir wir wohl auch nicht mehr so selbstverständlich Fernreisen machen. Transformationsprozesse, die definitiv auf uns zukommen, hat Corona quasi schon einmal angeteasert.
Interview: Clemens Niedenthal
Veröffentlicht am
Kommentare
Einen Kommentar schreiben