„Wir haben unsere Tugenden vernachlässigt“
von Stefan Wirner
30 Jahre Mauerfall: Mit Armin Maus, dem Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung, sprachen wir über das historische Ereignis und über die Fehler, die die Presse in den vergangenen Jahren gemacht hat.
Herr Maus, wo waren Sie, als Sie damals vom Fall der Mauer erfuhren?
Da saß ich gerade in der Politikredaktion der Mittelbayerischen Zeitung. Wir haben sehr viele Seiten produziert und waren so damit beschäftigt, das, was da passierte, für unsere Leser aufzubereiten, dass ich viele von den berühmten Bildern, die über sämtliche Fernsehkanäle liefen, erst mit einiger Verzögerung sehen konnte. Man hatte das Gefühl, hier passiert etwas, was die Weltgeschichte verändert, aber in den entscheidenden Stunden hab ich mehr gelesen als gesehen.
30 Jahre danach: Wie relevant ist das Thema für Regional- und Lokalzeitungen heute noch?
Das hängt ein bisschen von der geografischen Lage des Verbreitungsgebiets ab. Uns von der Braunschweiger Zeitung begegnet das Thema jeden Tag. Die ehemalige Zonengrenze, wie man immer so schön oder so hässlich gesagt hat, liegt ja direkt in der Region. Deswegen haben diese Tage aus dem Jahr 1989 hier einen riesigen Eindruck hinterlassen. Jeder, mit dem sie heute sprechen und der damals schon halbwegs wahrnehmungsfähig war, kann ihnen eine Geschichte erzählen – von den langen Autoschlangen, von den überschwänglichen Begrüßungen der Menschen aus dem Osten, von den Ansprachen auf den Marktplätzen, wo die jeweiligen Bürgermeister so viel Jubel kassiert haben wie wohl vorher selten in ihrer Karriere. Davon hat sich was im kollektiven Gedächtnis festgesetzt.
Welche Themen greifen Sie konkret auf?
Viele unterschiedliche. Wir fragen uns heute zum Beispiel, inwieweit die Technische Universität Braunschweig von der Staatssicherheit der DDR infiltriert worden ist, solche Themen werden von unseren Lesern in hohem Maße nachgefragt. Wir haben eine wunderbare Städtepartnerschaft zwischen Braunschweig und Magdeburg, es gibt Fanfreundschaften der jeweiligen Fußballclubs, da kommen traditionelle Bindungen zum Vorschein. Braunschweig und Magdeburg hatten schon immer sehr gute partnerschaftliche, auch wirtschaftliche Beziehungen. Nur waren die abgeschnitten. All das interessiert die Leser. Von daher: Die deutsche Teilung ist vielleicht nicht mehr das Thema, aber die deutsche Einigung durchaus. Die Leute sind wirklich froh darüber, dass es diese Grenze nicht mehr gibt, und je näher sie an der ehemaligen Grenze wohnen, desto stärker empfinden sie das.
Also kein Überdruss an dem Thema, nach dem Motto: Wir können es nicht mehr hören...?
Nein. Aber es gibt natürlich Schmerzpunkte. Etwa die Frage, wie viele Arbeitsplätze der Westen an den Osten verloren hat wegen des Fördergefälles, da gibt es durchaus auch Verhärtungen. Aber die deutsche Einigung ist Realität. Es gibt viele Menschen, die sich über die Grenze hinweggesetzt haben und im anderen Teil Deutschlands heimisch geworden sind. Die Selbstverständlichkeit des Miteinanders wird immer größer. Es ist ein gegenseitiges Akklimatisieren. Diese historischen und persönlichen Bindungen sind am Ende stärker als es diese Diktatur war.
Wir erleben in Deutschland einen relativen großen Wohlstand, wir haben Presse- und Meinungsfreiheit, genießen alle Errungenschaften der Demokratie. Diversen Umfragen und Untersuchungen zufolge aber scheinen Politik- und Medienverdrossenheit zuzunehmen. Woher kommt das?
Das ist schwierig zu erklären. Es gibt sicherlich viele unterschiedliche Ursachen. Politik-, Medien und Institutionenverdrossenheit sind auch ein Zug der Zeit. Insgesamt sind ja die sozialen Bindungen schwächer geworden. Viele Institutionen, die auf die Mitarbeit der Bürger angewiesen sind, wie etwa die Freiwillige Feuerwehr, haben Schwierigkeiten, Nachwuchs zu finden, das ist schon typisch für unsere Zeit. Der Individualismus in unserer Gesellschaft ist eine Kraft, die weder Politik, Medien, Kirchen, Gewerkschaften oder andere Organisation so leicht einfangen können.
Dann gibt es natürlich auch allen Grund bei diesen Institutionen, sich zu fragen: Haben wir eigentlich unseren Job gut genug gemacht? Eine Politik, die sich nicht mehr traut zu entscheiden, die Tatsache, dass jede noch so seriöse gefällte politische Entscheidung Gefahr läuft, von deutschen Gerichten wieder aufgehoben zu werden, weil die individuellen Klagerechte so inflationär zugenommen haben in den vergangenen 40 Jahren, sodass man heute nicht mal mehr eine Schule bauen kann, ohne sich womöglich in einem Prozessmarathon wiederzufinden – da muss diese Politik sich natürlich fragen lassen, ob sie da nicht in eine falsche Richtung gearbeitet hat.
Und die Medien?
Beispiel Flüchtlingskrise 2015: Da haben die meisten Journalisten – ich würde mich da ausdrücklich nicht ausnehmen – sich verleiten lassen, die Dinge rosiger zu sehen als sie waren. Wir haben nicht hingesehen, wie die Situation in den Stadtvierteln wirklich ist. Wir haben die Integrationsprobleme nicht wahrgenommen. Wenn man die Welt aus der Perspektive des gepflegten Vorgartens sieht, dann nimmt man eine andere Realität wahr als diejenigen, die an den sozialen Brennpunkten leben. Die erleben etwas anderes. Wenn Politik, Medien und Kirchen die Fähigkeit verlieren, die Realität zu sehen und diese konstruktiv und positiv zu gestalten, dann wird es schwierig. Klar, dem Land geht es so gut wie lange nicht, und trotzdem: Schauen Sie sich beispielsweise eine durchschnittliche Schule an, ihre technische Ausstattung, die Motivation der Lehrer, den Umgang von Eltern mit Lehrern, da ist nicht alles paradiesisch. Die Höhe der Einkommen oder des Bruttosozialprodukts sagt eben auch nicht alles aus.
Welche Aufgabe fällt bei diesem Problem den Zeitungen nun zu?
Wir müssen schreiben, was ist, wie es Rudolf Augstein einmal formuliert hat. Wir stecken zu oft in einer Form von Journalismus, die wir für magazinig halten, die aber in Wirklichkeit auch ein Stückweit beliebig sein kann. Die harte Nachricht liefern, dahingehen, wo die Dinge geschehen, mit Leuten reden, die davon betroffen sind, kritisch nachfragen, wo Zweifel angebracht sind – diese Tugenden haben wir in den vergangenen Jahren etwas vernachlässigt. Mir laufen auch zu viele Kollegen herum, die sagen, es gehe nun darum, Haltung zu zeigen. Ich glaube, das ist nicht die Aufgabe eines Journalisten. Ein Journalist sollte Demokrat sein, er sollte die Meinungsfreiheit verteidigen, und er sollte ein Anwalt seiner Leserinnen und Leser sein. Aber er sollte nicht eine Weltanschauung verbreiten, nach dem Motto: Alle Menschen sind lieb, und den ganzen Tag scheint die Sonne. Die Aufgabe des Journalisten ist es, sich anzusehen, was ist. Zu analysieren, was ist. Zu reflektieren, was ist. Wer hat denn bessere Möglichkeiten, die gesellschaftliche Diskussion, nach der letztlich alle lechzen, anzustoßen, als ein Journalist? Wir reden derzeit über Auflagenverluste, die wirklich nicht harmlos sind, gleichzeitig spüren alle, dass wir diese Diskussionsplattform brauchen. Es geht eben nicht alles nur über Facebook. Übrigens auch nicht über die Pressestellen der Kommunen oder die Büros der Abgeordneten. Wir brauchen den publizistischen Marktplatz.
Am 26. August findet ein Power-Workshop der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb zum Thema Mauerfall statt, und zwar in den Räumen der Braunschweiger Zeitung. Was wünschen Sie sich von dem Workshop?
Es ist wichtig, dass wir unser Handwerkszeug pflegen und immer wieder neu entwickeln. Mit einem Workshop, der Themen und Herangehensweisen erschließt, und dadurch auch anderen, die nicht am Workshop teilnehmen, Hilfestellung gewährt und Anregungen liefert, hätten wir schon viel erreicht. Das leisten die Workshops der Bundeszentrale für politische Bildung, und daher schätze ich sie. Und im Übrigen: Die drehscheibe ist das beste Beispiel dafür, dass man Werkzeuge mit der Post verschicken kann.
Interview: Stefan Wirner
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