„Wir wollten eine lokaljournalistische Leerstelle füllen“
von Max Wiegand
Am 18. Juni werden in Köln die Grimme Online Awards verliehen. Unter den Nominierten befindet sich auch ein hyperlokaler Blog aus dem Berliner Stadtteil Neukölln. Was hat es mit Neukoellner.net auf sich? Was machen die Betreiber besser als andere? Darüber sprach die drehscheibe mit der stellvertretenden Chefredakteurin Sabrina Markutzyk.
Frau Markutzyk, seit wann gibt es Ihren Blog und wie kam es zu der Idee, ihn einzurichten?
Den Blog gibt es seit Anfang des Jahres 2011. Unser Geschäftsführer Max Büch und die Chefredakteurin Regina Lechner studierten damals an der Universität der Künste mit ein paar anderen von uns in Berlin Kulturjournalismus. Die Idee zum Blog entstand im Rahmen eines Seminars. Anfangs lag der Fokus vor allem auf kulturellen Geschehnissen in Neukölln. Nach kurzer Zeit stieß ich mit anderen Politik- und Publizistikstudenten dazu. Aufmerksamkeit erhielten wir dann dadurch, dass wir den Wahlkampf zur Abgeordnetenhaus-Wahl 2011 auf lokaler Ebene intensiv begleiteten. Das gab es so zu der Zeit nicht. Wir alle leben in Neukölln, und es ging uns darum, die lokaljournalistische Leerstelle zu füllen. Die wenigen Medienberichte, die es über Neukölln gab, zeichneten ein Bild, das wir so nicht teilen konnten. So tauchte der Stadtteil nur in Polizei-Meldungen auf oder wurde im Zusammenhang mit den schon länger zurückliegenden Vorfällen an der Rütli-Schule erwähnt. Wir wollten vielfältiger berichten.
Inwiefern unterscheiden Sie sich von anderen Lokaljournalisten?
Wir kommen alle nicht aus dem Lokaljournalismus. Deshalb haben wir schon einmal einen anderen Blick auf die Themen. Wir benutzen eine andere Sprache, ich glaube, das ist ein großer Unterschied. Es gibt meiner Meinung nach einen typischen Sprachstil, der häufig von Lokalzeitungen verwendet wird. Den versuchen wir zu vermeiden. Außerdem sammeln wir viele Themen direkt auf der Straße ein. Als Social-Media-Beauftragte bin ich direkt verknüpft mit vielen Neuköllnern, bekomme also viel davon mit, was die Menschen hier beschäftigt. Unsere Themen entstehen also in erster Linie über den persönlichen Kontakt zu ihnen.
Über was berichten Sie zum Beispiel?
Was das inhaltliche Spektrum anbelangt, sind wir ganz nah beim klassischen Lokaljournalismus: Wir berichten über Politik, Kunst und Kultur bis hin zum Sport. Viele persönliche Geschichten sind dabei, die im besten Falle ein größeres Bild zeichnen. Wir erzählen die Geschichte einer heroinabhängigen Studentin oder porträtieren ein Gastarbeiterehepaar, das hier dreißig Jahre lang gearbeitet, niemals Urlaub gemacht hat und eine mickrige Rente zu erwarten hat. Die großen wiederkehrenden Themen sind die Veränderungen im Kiez. Gentrifizierung und alles was damit einhergeht, beschäftigt uns in ganz vielen unterschiedlichen Perspektiven und Facetten. Wo früher ein Freibad stand, sollen jetzt Luxusstadtvillen gebaut werden. Kleine Geschäfte müssen schließen, Menschen gehen. Gleichzeitig hat es seit einer Weile schon viele Israelis nach Neukölln gezogen. Während in Deutschland die Angst vor dem Islam umgeht und Neukölln als abschreckendes Beispiel einer düsteren Zukunft dieses Landes instrumentalisiert wird, haben Juden und Moslems hier zusammen die Initiative Salaam Schalom gegründet – als ein Zeichen gegen Antiislamismus in unserer Gesellschaft und für ein Miteinander der Kulturen und des Glaubens. Davon reden wir.
Und es geht um Politik: Wir berichten über die menschenunwürdigen Wohnverhältnisse, in denen Flüchtlinge hier untergebracht werden, den Gutsherrenstil in der Lokalpolitik – und erzeugen öffentlichen Druck – das ist jedenfalls mein Anspruch. Und ich habe das Gefühl, dass das nicht nur punktuell manchmal klappt, sondern auch langfristig hier und da etwas bewegt hat. Denn die Lokalpolitiker, zumindest die klügeren unter ihnen, wissen, dass sie nicht mehr im Dunkeln handeln.
Wie wird Ihr Angebot angenommen?
Wir erhalten viele positive Rückmeldungen. Das schlägt sich auch in den Zahlen nieder. Mittlerweile haben wir rund 20.000 Besucher im Monat. Von Januar bis Mai haben wir 100.000 Menschen erreicht, das entspräche also in etwa einem Drittel der Neuköllner Bevölkerung. Auf Facebook haben wir in der Spitze eine Reichweite von 100.000 Menschen in der Woche, die wir erreichen.
Wie ist Neukoellner.net organisiert? Wie groß ist das Team?
Das Kernteam der Redaktion besteht aus neun Personen. Dabei gibt es zwei wechselnde CvDs, die die Arbeit koordinieren. Diese Rolle übernimmt jeder im Team abwechselnd, weil wir das alle ehrenamtlich machen und die Arbeit sonst nicht zu bewältigen wäre. Ansonsten gehören eine Grafikerin, eine Programmiererin und zwei Social-Media-Beauftragte zum Team. Außerdem verfügen wir über eine sehr große Anzahl an freien Autoren, die mal mehr, mal weniger regelmäßig für uns schreiben. Alle zwei Wochen trifft sich das Team auf einer Redaktionskonferenz. Ein großer Teil der Kommunikation spielt sich aber durchgängig im Netz in verschiedenen Chatgruppen ab.
Wie finanzieren Sie sich?
Anfangs wollten wir einen gemeinnützigen Verein gründen, was uns jedoch vom Finanzamt untersagt wurde.Mittlerweile sind wir eine haftungsbeschränkte UG. Unsere Leser können einmalig Spenden oder freiwillige Abos auf Spendenbasis abschließen. Über diese Einnahmen können wir aber in erster Linie nur die Grundausgaben begleichen, wie zum Beispiel die Miete für die Redaktionsräume und unsere Serverkosten. Unsere Arbeit hingegen ist ehrenamtlich.
Gibt es Ideen, wie auch die Autoren in Zukunft daran verdienen können?
Wir arbeiten daran. In jedem Fall wollen wir keine Bezahlschranke einführen. Für uns kommt das nicht in Frage, da wir auch von unserer Zugänglichkeit leben. Ein reines Anzeigenmodell würde wiederum das Aussehen der Seite verschandeln. Wir arbeiten an einem Konzept, für das wir momentan nach Geldgebern suchen, weil dahinter großer technischer Aufwand steht. Grundsätzlich suchen wir nach Partnern und Sponsoren, auch wenn wir Sponsored Content im Gegensatz zu anderen Blogs nicht wollen. Das ginge nur zu Lasten der Glaubwürdigkeit. Die Lösung liegt wohl in einem Mischfinanzierungskonzept. Wir machen zum Beispiel auch Veranstaltungen und Partys, die Einnahmen generieren. Eine andere Möglichkeit liegt im Verkauf von Merchandise.
Glauben Sie, dass lokale Blogs in Zukunft eine ernstzunehmende Alternative zu Lokalzeitungen darstellen?
Das denke ich schon. Grundsätzlich informiert sich der Großteil der Bevölkerung ohnehin über das Internet. Ein wichtiger Punkt, den wir anderen voraus haben, ist, dass wir zumeist eine klare Haltung zu Themen einnehmen. Wir sind kein Nachrichtenportal. Ich glaube, dass die Menschen viel mehr Einordnungen und Meinungen brauchen, als reine Nachrichten. Wir sind nicht anonym, die Leute kennen uns und wissen, welche Meinung wir vertreten, auch wenn diese sich innerhalb der Redaktion ähnlich wie bei der taz auch mal deutlich unterscheiden kann. Darin liegt der Vorteil unseres Formats.
Interview: Max Wiegand
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