Leseranwalt

Antwort auf tausend Protestbriefe

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Der Leseranwalt des Observer aus London schaltet sich in Streits zwischen Lesern und Redakteuren ein. Beispielsweise wenn sich Transsexuelle im Blatt falsch dargestellt sehen.

Das Prinzip eines Leseranwalts ist einfach: Medienunternehmen fordern Rechenschaft von der Regierung und den Institutionen, also müssen sie auch ihrem Publikum gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Ich bin seit 40 Jahren Journalist und bemühe mich seit 13 Jahren als Leseranwalt des Observer, dieses Prinzip umzusetzen.

Es geht im Grunde nur um eines: um Transparenz. Transparenz erzeugt Vertrauen. Zeigen Sie Ihren Lesern, dass Ihnen Präzision und Fairness wichtig sind, dass Sie es mit den Fakten sehr genau nehmen, und Sie werden ihr Vertrauen gewinnen. Wenn die Leser Ihnen vertrauen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie Ihre Zeitung kaufen.

Als ich meine Arbeit als Leseranwalt begann, zeigte eine Leserumfrage des Observer, dass 62 Prozent der Leser wussten, dass es mich – den Leseranwalt – gibt und was meine Aufgabe ist. Heute sind es 83 Prozent. Ich hoffe, dass dies der Grund dafür ist, dass 92 Prozent unserer Leser sagen, sie vertrauen der Berichterstattung des Observer.

Für unsere Redaktion arbeiten etwa 70 Journalisten, wir haben eine Million Leser, und 102 Millionen Besucher informieren sich monatlich auf unserer Website, die wir gemeinsam mit unserem Schwesterblatt, dem Guardian, betreiben. Meine vornehmliche Aufgabe ist es, Streitigkeiten zwischen Lesern des Observer und Redakteuren beizulegen.

Ein Leseranwalt bringt einer Redaktion mehrere Vorteile: Der Chefredakteur muss sich nicht mehr um die Beschwerden kümmern; die Institution des Leseranwalts zeigt dem Publikum, dass der Redaktion korrekte Berichterstattung wichtig ist; die Treue der Leserschaft wird gestärkt, und die Anzahl der Beschwerden, die anwaltlich oder gar gerichtlich verfolgt werden, sinkt dramatisch – und damit sinken auch die Kosten für Anwalt und Gericht. Schätzungen zufolge sind die Rechtskosten der Redaktion um ein Drittel gesunken, seit es den Leseranwalt gibt.

Seit ich im Amt bin, habe ich viele Tausend Beschwerden und Anfragen behandelt. Jede einzelne muss geprüft werden. Bei jeder einzelnen muss entschieden werden, ob eine Korrektur erforderlich ist oder ob das Thema in meiner monatlichen Kolumne einer weiteren Diskussion geöffnet werden sollte.

Die Inhalte dieser Kolumne bestimme ich selbst, und ich habe eine Vereinbarung mit der Chefredaktion, dass sie keinen Einfluss auf diese Inhalte nimmt. Die Mitarbeiter sind verpflichtet, voll und zeitnah mit mir zu kooperieren, was sie im Allgemeinen auch tun. Ich sehe es als meinen Erfolg an, dass die Kolleginnen und Kollegen von sich aus zu mir kommen und mich auf Fehler in ihren eigenen Texten hinweisen. Sie haben erkannt, dass eine korrigierte Berichterstattung von Vorteil für sie und ihre Quellen ist.

Ein Beispiel: Im Januar des letzten Jahres veröffentlichte meine Zeitung einen Kommentar, dessen Darstellung von Transsexuellen einen Aufschrei ausgelöst hat. Der Artikel zog 4.000 Kommentare nach sich, innerhalb von 24 Stunden lagen 1.000 Protestbriefe in meinem E-Mail-Eingang, und Transsexuelle demonstrierten vor der Redaktion.

In meiner Kolumne beschrieb ich, wie der Artikel zustande gekommen war, wie die Reaktionen darauf ausfielen, inwiefern der Artikel unseren eigenen Verhaltenskodex verletzte und welche Regeln unsere Leser einhalten müssen, wenn sie auf unserer Website einen Kommentar schreiben. Daraufhin habe ich viele sehr positive Reaktionen von Gruppen Transsexueller erhalten, von denen wir auch einige zu Gesprächen mit unseren leitenden Redakteuren eingeladen haben.

Stephen Pritchard

Autor

Stephen Pritchard ist Leseranwalt des Observer und war Präsident der Organization of News Ombudsmen.
E-Mail: stephen.pritchard@observer.co.uk

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