Leseranwalt

Bei Polizeimeldungen kritisch bleiben

von

Aus drehscheibe 12/2020

Auf die Richtigkeit offizieller Meldungen der Polizei darf sich die Presse in der Regel verlassen. Die Polizei gilt in der Rechtsprechung als privilegierte Quelle. Das wird in der redaktionellen Praxis oft so ausgelegt, dass man Mitteilungen der Polizei nur selten überprüft. Eine Arbeit, die man sich gerne erspart. Leicht wird dabei übersehen, dass diese Privilegierung nur gilt, sofern die Mitteilungen keine Widersprüche und Ungereimtheiten enthalten.
Nun sind aber durchaus auch mal Zweifel angebracht an dem, was die Polizei so meldet. Folglich gilt auch hier journalistische Wachsamkeit. Nicht nur wegen bundesweiter Diskussionen, sondern auch vor Ort im Lokaljournalismus. Es betrifft genauso die täglichen Blechschäden oder andere Vorfälle, die unter Überschriften wie „Polizeibericht“ aufgelistet sind. Auch in diesen Fällen kann nicht alles einfach hingenommen werden. Dafür steht ein kleines Beispiel.
Eine Leserin schreibt mir, eine Notiz im Polizeibericht (siehe Textende) lasse sie an ihrem Rechtsempfinden zweifeln. Grund: Als Tatsache ist zu lesen, dass bei der unliebsamen Begegnung zweier Hundehalter einer dem anderen den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt hat. Die Frau ärgert sich: „Hätte es nicht mich bzw. meinen Lebensgefährten betroffen, ich hätte es geglaubt.“ Sie hält die Zeitungsmeldung für eine Vorverurteilung, denn ihr Lebensgefährte habe lediglich mit beiden Händen in der Luft den eigenen Hund zurückgepfiffen.
Die Frau fragt zu Recht: „Darf die Presse das, auch wenn es von der Polizei kommt, einfach veröffentlichen?“ Ich antworte: Sie sollte es in diesem Fall besser nicht. Schon deshalb, weil eine Schuldzuweisung vorliegt. Obwohl es nicht dramatisch erscheint, weil keine Beteiligten identifizierbar sind, hätte journalistische Sorgfaltspflicht eine Nachprüfung verlangt. Denn bei dem „Stinkefinger“ handelt es sich um den Vorwurf eines Beteiligten, der den Vorfall angezeigt hat. Eben das hätte man sich denken können.
Das heißt auch, als Tatsache – wie geschehen – kann der böse Finger kaum dargestellt werden. Weil wohl Aussage gegen Aussage steht, handelt es sich aktuell um eine Falschmeldung. Ich empfehle somit der Leserschaft vorsorglich, Meldungen unter der Überschrift „Polizeibericht“, wie im vorliegenden Fall, die einseitig Schuld zuweisen, nicht in allen Fällen schon als Tatsache zu lesen, sondern als den Stand der Dinge, so wie er bei diensthabenden Beamten angekommen ist. Das ist keine Rechtsprechung. Die Redaktion ist nicht von ihrer Sorgfaltspflicht befreit.
Merke: Die Rechtsprechung sagt, dass sich die Presse in der Regel auf die Polizei verlassen darf, von immer ist nicht die Rede.

Hier der Wortlaut der kleinen Zeitungsmeldung, von der die Rede ist. Ortsbezeichnungen habe ich weggelassen, weil ohne Bedeutung:
„Polizeibericht: Beim Gassigehen beleidigt. Am Samstagabend liefen auf dem Radweg zwei Hundebesitzer mit ihren Hunden Gassi. Da der größere Hund nicht angeleint war, wurde dessen Besitzer gebeten, diesen anzuleinen, aus Angst, er könnte dem kleineren Hund etwas antun. Diese Bitte wurde mit dem ausgestreckten Mittelfinger beantwortet.“

Der Text erschien erstmals auf Mainpost.de am 6. August 2020.

 

 

Anton Sahlender

Autor

Anton Sahlender war von 1988 bis 2014 stellvertretender Chefredakteur der Main-Post. Seit 2004 ist er Leseranwalt der Zeitung und kümmert sich um die Interessen der Leser.

Telefon: 0170 – 836 28 80
Mail: anton.sahlender@mainpost.de

Veröffentlicht am

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Kommentieren

Bei den mit Sternchen (*) markierten Feldern handelt es sich um Pflichtfelder.