Bekenntnis statt Meinungsmache
von Gastautor
Aus drehscheibe 01/2022
Eine Journalistin versuche, subtil Meinung zu machen, kritisiert ein Leser einen Samstagsbrief unseres Blattes vom 20. November an einen Professor, der Mitglied der Ständigen Impfkommission ist. Der Professor werde vordergründig für seine Meinung zu Lockdown-Maßnahmen gelobt, aber eigentlich fordere die Autorin schärfere Maßnahmen. Die begründe sie mit stark übertriebenen Horrorszenarien, meint der Leser.
Selbst schreibe die Autorin aber auch, wie verheerend sich ein Lockdown auf die Psyche, auf Existenzgrundlagen auswirken oder zu Isolation und Depressionen führen könne; ebenso zur Schwächung der Wirtschaft, der Grundlage für aller Wohlstand. Der Leser hält fest, es sei Aufgabe einer Tageszeitung, „differenziert und möglichst ausgewogen zu berichten“, und nicht in solchen Briefen „Meinungsmache“ zu betreiben und die Stimmung anzuheizen.
Im Begriff „Meinungsmache“, den Medienkritiker gerne nutzen, steckt der Vorwurf, es würde versucht, die Meinung anderer zu beeinflussen. Im schlimmsten Fall geschieht das manipulierend, etwa mit gezielt einseitigen Begründungen. Das gibt der in einem Samstagsbrief vertretenen Meinung allerdings zu viel Gewicht innerhalb der vielen anderen Veröffentlichungen. Solche Einflussnahme erkenne ich im angesprochenen Beitrag ohnehin nicht. Sogar der Leser selbst greift in seiner Kritik die Gegenargumente auf, die von der Autorin genannt worden sind.
Grundsätzlich nehme ich häufig wahr, dass Leser es ablehnen, wenn Journalisten nicht nur berichten, sondern auch kommentieren. Meist dann, wenn sie andere Meinungen vertreten. Dahinter steckt die Befürchtung, dass sich davon nun die Leserschaft zu großen Teilen überzeugen lasse. Die ist bekanntlich unbegründet. Richtig ist, eine Autorin hat sich im Samstagsbrief schon in der Überschrift zu einem Lockdown bekannt. Das darf sie. Liegt doch das begründete Bewerten und das Äußern einer Meinung ganz im Sinne der schon im Kopf mit „Meinung“ gekennzeichneten Seite 2 der Zeitung.
Der Samstagsbrief enthält stets Werturteile, verfasst in Briefform und verschickt an die jeweiligen Adressatinnen und Adressaten. Die Redaktion erklärt dabei die ungewöhnliche Stilform, die persönliche, direkte und pointierte Formulierungen zulässt: Der Brief dürfe emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse geschrieben sein. Er lade ein zur Debatte. Was übrigens für alle Kommentare gilt.
Die Beschreibung des Samstagsbriefes ist allerdings regelmäßig nur seiner Online-Fassung beigefügt. Printleser wie hier sehen sie nicht.
Der redaktionell erwünschten Debatte ordne ich nun die Kritik des Lesers. zu. Die liegt im Sinne von Tageszeitungen, die zum demokratischen Diskurs beitragen und ein Markt der Meinungen sein sollen. Dabei muss veröffentlichte Kritik nicht unbedingt sachlich vorgetragen werden, sondern darf auch „pointiert, polemisch und überspitzt“ erfolgen. Das hat sogar das Bundesverfassungsgericht eingeräumt. Auch Einseitigkeit ist nicht verboten, aber nicht gerade im Sinne eines glaubwürdigen Journalismus. Wenn also Journalisten selbst Spielräume nicht immer ausreizen, ist das verständlich, dient dazu einem funktionierenden Diskurs und erhöht die Medienmündigkeit.
Ereignisse aus Gesellschaft und Politik zu bewerten, gehört jedenfalls unabdingbar zum Journalismus, ebenso wie die vom Leser geforderte differenzierte und ausgewogene Berichterstattung. Dabei sollten Journalisten ihre Meinungen auf Tatsachen gründen.
Der Beitrag erschien zuerst in der Main-Post.
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