Leseranwalt

Genau hinschauen, wenn es kracht

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Aus drehscheibe 05/2023

Todesfällen im Straßenverkehr und der Berichterstattung darüber nimmt sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon längere Zeit an. Sie rät Journalisten, sich nicht alleine auf Polizeiberichte zu verlassen. Zu oft werde dabei versucht, die Schuld für Unfälle auf Einzelne abzuwälzen. Es gelte jedoch, weitere Faktoren zu recherchieren, die von der Sicherheit beteiligter Fahrzeuge bis zur Beschaffenheit der Straße reichen.

Im Journalism Review der renommierten Columbia-University (New York) wird über WHO-Schulungen berichtet, die es seit zwölf Jahren für Journalisten aus Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in Asien, Afrika und Lateinamerika gibt. Weltweit würden dort mehr als 90 Prozent der Verkehrstoten gezählt, aber nur 60 Prozent der Fahrzeuge. Selbst in den USA sieht man im Vergleich mit anderen reichen Ländern Probleme. Doch auch auf unseren Straßen ist jeder Verletzte und Tote einer zu viel.

Ein regionales Beispiel: Im Februar ist in der Main-Post zu lesen, dass drei Autofahrer zwischen Höchberg und Waldbüttelbrunn zum Teil schwer verletzt worden sind. „Spurwechsel mit Folgen“ steht in der gedruckten Ausgabe. Beim Versuch eines Fahrers, mit seinem Wagen die Spur zu wechseln, habe es laut Polizei die Kollision mit einem anderen Fahrzeug gegeben. Dieses sei in den Gegenverkehr geschleudert worden und frontal gegen ein weiteres Fahrzeug geprallt.

Der versuchte Spurwechsel eines Fahrers steht wie der Auslöser da. Mögliche weitere Faktoren, wie etwa die Verkehrsführung, werden nicht erwähnt. Klar, es handelt sich lediglich um eine erste Schilderung des Hergangs. Nachfolgende Untersuchungen des Unfalls könnten ein anderes Bild zeichnen, nur ist davon in der Zeitung meist nur selten zu lesen. Ohne Berichterstattung wird die Gesellschaft jedoch kaum über weitere mögliche Auslöser des Unfalls erfahren. Deshalb strebt die WHO an, die Denkmuster von Journalisten zu erweitern. In einzelnen Fällen können eigene journalistische Recherchen nachhelfen, auch solche, die über den Polizeibericht hinausgehen.

Menschen machen Fehler und das sei bei der Gestaltung von Straßen und Fahrzeugen zu berücksichtigen, so lautet die Idee für den WHO-Aktionsplan zur Straßenverkehrssicherheit. Die Ausbildung von Journalisten solle „Lobbyarbeit und politische Unterstützung“ für die Schaffung sicherer Straßen stärken. Es gelte, vom „traditionellen“ Paradigma, das eine individuelle Verantwortung Einzelner in den Mittelpunkt stelle, wegzukommen.

So fördere beispielsweise das US-Verkehrsministerium sichere Geschwindigkeiten durch gute Straßengestaltung und die Verbesserung der Versorgung nach Unfällen. Auch die Main-Post macht zuweilen abseits vom Unfallgeschehen auf den schlechten Zustand von Straßen aufmerksam.

Journalisten Lobbyarbeit anzudienen, geht allerdings nicht, liebe WHO, selbst wenn ein Wechsel der Denkweise im Umgang mit Unfallmeldungen der Polizei gewiss nicht schadet. Und für Berichte zur Sicherheit auf Verkehrswegen sind hierzulande auch ohne WHO wichtige Faktoren für Recherchen kaum zu übersehen: so beispielsweise die Geschwindigkeiten und deren generelle Begrenzung, über die gerne gestritten wird.

Der Beitrag erschien am 2. März 2023 in der Main-Post. Er wurde redaktionell bearbeitet.

Anton Sahlender

Autor

Anton Sahlender war von 1988 bis 2014 stellvertretender Chefredakteur der Main-Post. Seit 2004 ist er Leseranwalt der Zeitung.

Telefon: 0170 – 836 28 80
Mail: anton.sahlender@mainpost.de

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