Herr W. und die Frage des Genderns
von Gastautor
Aus drehscheibe 11/2024
Kürzlich erschien auf unser Titelseite ein dpa-Artikel, den die Zentralredaktion mit der Überschrift „Mehr als 14 Millionen Bayerinnen und Bayern bis 2045“ versah. Ein Leser kommentierte das mit einer Portion Sarkasmus: „Grandios! Hier hat sich der Schreiberling des Beitrags aber in den Olymp der Gender-Experten katapultiert! Das goldene Gender-Verdienstkreuz am Band dürfte ihm zusätzlich sicher sein. Gott mit dir, du Land der Bayern und Bayerinnen, deutsche Erde, Vater- und Mutterland!“
Meine Antwort auf die Mail gebe ich hier im Wortlaut wieder: „Sehr geehrter Herr W. oder ,lieber Lesender‘, wie ich meine Antwort jetzt im Prinzip auch beginnen könnte, ohne ein Anhänger des Genderns zu sein. Ein Kollege von der Augsburger Allgemeinen hat zum Thema einmal in einer Kolumne geschrieben: ,Liebe Lesende! Denn damit sind ja alle gerade im Vollzug des Lesens nachweislich gemeint und geschlechterneutral bezeichnet. Und die allermeisten würden sich sicher auch noch mit der Anrede wohlfühlen, die über die traditionell alle Geschlechter verallgemeinernde Form des generischen Maskulinums hinausgeht, also statt ,Liebe Leser‘ nun ansetzt mit: Liebe Leserinnen und Leser! Ganz anders sähe es freilich aus, stünde hier: Liebe Leser*innen! Das wollte die absolute Mehrheit hier nun gerade nicht lesen wollen.‘ Und weiter meinte er: ,Die meisten klassischen Medien suchen trotzdem ein Dazwischen, gendern im eigentlichen Sinne nicht selbst, haben bloß den (bei aller generischen Neutralität) Anschein männlicher Dominanz entschärft, indem sie den angesprochenen Lesern verstärkt die Leserinnen hinzugesellen – und erlauben bloß in ausdrücklichen Fremdäußerungen Leser*innen. Das macht sie von beiden Seiten angreifbar.‘“
„Bayernde“, teilte ich dem Leser mit, „hätte sich in der von Ihnen erwähnten Überschrift ziemlich doof angehört. Mit ,Bayerinnen und Bayern‘ kann auch ich leben. Was Sie aufregt, hat bei einer Leserin für Begeisterung gesorgt. Sie hat mit ,Endlich!!!‘ auf die Titelzeile reagiert. Die Geschmäcker sind eben verschieden. Uns ist durchaus bewusst, dass Umfragen zufolge eine Mehrzahl der Menschen das Gendern eher ablehnt. Mitunter geschlechtersensible Schreibweisen zu verwenden, das ist auch in unserem Hause inzwischen nicht unüblich. Das können Doppelnennungen (Beispiel: Lehrerinnen und Lehrer) oder Synonyme (Beispiel: Lehrkräfte) sein. Wenn der Platz knapp ist (etwa in Überschriften), kann man sich Alternativen überlegen. Das generische Maskulinum bleibt aber immer eine Möglichkeit.“
Der Leser schrieb mir unter anderem Folgendes: Er würde meine Entgegnung „in weiten Teilen so unterschreiben“. Außerdem meinte er: „Das Dilemma bei dem so strittigen Thema ist in meinen Augen, dass eine verschwindende Minderheit (...) sich in der Sprache plötzlich unterrepräsentiert wähnt. Nur: Die jetzt von ihnen so vehement in die Öffentlichkeit gezerrte und geforderte Veränderung zeitigt zwar möglicherweise eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Belange der Frauen, eine angestrebte erhöhte Wertschätzung dagegen ist krachend gescheitert und eher ins Gegenteil umgeschlagen: tiefe Verachtung.“
Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitung Der neue Tag. Er wurde redaktionell bearbeitet und gekürzt.
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