Intimes öffentlich gemacht
von Gastautor
Nachdem eine Zeitung über pikante Selfies eines Politikers berichtet hat, verzichten die Parteien auf eine Schlichtung durch den Ombudsmann – und der Fall geht vor Gericht.
In einer schönen Stadt in der Nähe von Zürich ereignete sich Schreckliches: Der Stadtammann (Stadtpräsident) und Mitglied des Nationalrates (Volkskammer) sandte seiner Freundin ein Selfie, das allerdings nicht sein lachendes Gesicht zeigte, sondern ein spezifisch männliches Körperteil, das „Mann“ sonst nicht zur Schau zu stellen pflegt. Wieso dies öffentlich bekannt wurde? Weil besagte Freundin dieses Bild aus unbekannten Gründen Drittpersonen zustellte. Und es kam wie es kommen musste: Der Selfievorgang fand den Weg in die Sonntagspresse.
Ein wahrhafter Skandal! Doch was war der Skandal? Das pikante Selfie des Politikers selbst oder der schonungslose Bericht darüber in der Zeitung (das Bild selbst wurde nicht publiziert)? Das war die Frage, die sowohl eine breitere Öffentlichkeit als auch Anwälte und Gerichte beschäftigte und immer noch beschäftigt. Als Ombudsmann der AZ Medien wäre ich für den Fall zuständig gewesen – wäre ich beigezogen worden. Doch die Parteien wählten den direkten Weg zur Justiz und ließen die Ombudsstelle schnöd am Wegrand liegen. Sind die verschiedenen rechtlichen Standpunkte mit Anwaltshilfe definiert, bleibt oft kein Raum für eine einvernehmliche Vermittlung. Doch eigentlich handelte es sich um ein Eldorado medienethischer Fragestellungen. Ich habe diese (und andere) in Form eines internen Workshops mit den Redaktionsleitern aller AZ Medien diskutiert und aufgearbeitet.
Im Vordergrund stand eine Güterabwägung zwischen dem Schutz der Privatsphäre des Stadtammanns und dem (von den Medien selbst interpretierten) Informationsbedarf der Öffentlichkeit. Liegt die Information über besondere sexuelle Vorlieben von Amtsträgern im öffentlichen Interesse, auch wenn sie den Boden des Rechts nicht verlassen? Ein allfälliges Informationsinteresse muss jedenfalls umso gewichtiger sein, je stärker der öffentlich bloßgestellte Intimbereich berührt wird.
Spielt es eine Rolle, ob dieses Verhalten gesellschaftlich als unsittlich, ja sogar als Amtspflichtverletzung taxiert wird? Von wo aus das Selfie versandt wurde (zum Beispiel aus der Amtsstube, aus dem Nationalratssaal oder von zu Hause)? Ob der Betroffene verheiratet ist? Ob es allenfalls schon „stadtbekannt“ ist, dass der Betroffene in diesem Sektor einen „lockeren“ Umgang pflegt? Es kommt hinzu, dass die Sonntagspresse oft unter einem hohen Zeitdruck arbeitet; die Sucht nach dem Primeur drängt sich gerne nach vorne. Bis zur nächsten Ausgabe vergeht eine ganze Woche – eine Ewigkeit im medialen Instantzeitalter. Und, nicht vergessen: Sex sells.
Interessant war, zu beobachten, wie unterschiedlich die Öffentlichkeit reagierte. Sie spiegelte einerseits die disparaten Auffassungen über die Sexualität in der Gesellschaft wider, die von einer generösen Liberalität (Was geht uns das intime Verhalten anderer Menschen an?) bis zur konservativen Verurteilung (Pfui, so etwas macht man einfach nicht, erst recht nicht als Politiker) erstreckten. Und dies vor dem Hintergrund eines unreflektierten Bildes, das wir von führenden Politikern in uns tragen: Sollen sie ein Abbild des Volkes sein (einer von uns) oder – im Gegenteil – ein Vorbild, an das höhere Anforderungen zu stellen sind? Jedenfalls schimmerte in der öffentlichen Empörung auch viel Scheinheiligkeit durch.
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