Leseranwalt

Meinungsfreiheit falsch verstanden

von

Aus drehscheibe 01/2020

Auch Meinungsfreiheit unterliegt Regeln. Die gelten auch für einen Leser, der in einem Schriftwechsel mit mir eine irrige Auffassung vertritt: Die Anforderung, Leserbriefe in der Zeitung nur zu veröffentlichen, wenn sie Namen und Wohnort des Absenders (nicht Straße) enthalten, sei nicht mit dem Datenschutzgesetz vereinbar. Dem Einsender müsse freigestellt sein, ob seinem Brief diese Angaben mitgegeben werden.

Der Mann begründet seine Auffassung wie folgt: Bei manchen Themen hält er es für kein Problem, den Namen anzugeben, etwa beim Klimaschutz. Anders sei es, wenn es um Antisemitismus und Islamismus gehe. Schreibe man negativ über den Islam, könne ein Fanatiker dem Schreiber womöglich Schaden zufügen, weil – so wörtlich – „ich in dem Leserbrief (...) Dinge geschrieben habe, die ihm nicht passen, auch wenn sie der Wahrheit entsprechen“. Sorge halte ihn deshalb davon ab, einen Leserbrief zu verfassen.

Ich habe versucht, ihn zu beruhigen. Bleibt doch seine genaue Anschrift streng gehütetes Redaktionsgeheimnis. Das war ihm nicht genug, weil er nicht zu Unrecht annimmt, dass genaue Anschriften beispielsweise über Google leicht zu ermitteln seien. Trotzdem habe ich erklärt, dass die Redaktion grundsätzlich keine Leserbriefe anonym abdruckt.
Nach dieser Ablehnung wurde er deutlich: Das seien Methoden wie in einem „Nicht-Rechtsstaat“. Denn niemand wolle seine Meinung veröffentlicht haben, wenn ihm dadurch ein Attentat oder große geschäftliche und berufliche Nachteile drohten. Genau so sei es doch in einer Diktatur. Zu sagen, was ihnen am Herzen liege, sei somit Lesern praktisch auch hier unmöglich gemacht.

Diese Logik mag erstaunen. Da konstruiert jemand über seine Ängste in das Grundrecht der freien Meinungsäußerung diktatorische Zustände hinein. Deshalb halte ich fest, was auch nachlesbar ist: Oft genug erscheinen in der Zeitung kritische Stimmen – auch gegen Islam oder Antisemitismus –, zu denen Leser mit ihren Namen stehen. Das gehört einfach zur Meinungsäußerung (die selten unwiderlegbare Wahrheit ist) dazu, genauso wie das Grundvertrauen in den Rechtsstaat. Das sollte nicht verloren gehen.

Es ist auch Anerkennung des Rechtsstaats, wenn die Redaktion keine herabwürdigenden, keine nicht nachprüfbaren oder keine erkennbar falschen Behauptungen und damit auch keine antisemitischen Texte veröffentlicht. Die Redaktion sieht sich dafür in der Mitverantwortung. Das schützt auch den Absender, der wiederum seine Meinung selbst zu verantworten hat. Deshalb gelten die genannten Regeln auch für Kommentare unter digitalen Beiträgen, die mit Fantasienamen (Absender der Redaktion bekannt) erscheinen. Dem digitalen Umgang mit Meinungsäußerungen – sprich der Möglichkeit, anonym zu kommentieren – kann man deshalb durchaus kritisch gegenüberstehen.

Fazit: Bislang kenne ich keine Absender, die als Folge ihrer hier verbreiteten Meinung ernsthaft Schaden genommen haben. Zugegeben: Man muss immer darauf vertrauen können, dass das so bleibt.

Der Beitrag erschien am 4. November 2019 auf Mainpost.de

 

Anton Sahlender

Autor

Anton Sahlender war von 1988 bis 2014 stellvertretender Chefredakteur der Main-Post. Seit 2004 ist er Leseranwalt der Zeitung und kümmert sich um die Interessen der Leser.

Telefon: 0170 – 836 28 80
Mail: anton.sahlender@mainpost.de

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