Meinungsfreiheit für alle
von Gastautor
Aus drehscheibe 09/2022
„Leserbriefe sind das Salz in der Suppe“, habe ich vor Jahren in einer meiner Kolumnen geschrieben. So manche Veröffentlichung stößt dabei nicht auf Gegenliebe: Auf einer unserer letzten Leserseiten mit Zuschriften zu überregionalen Themen hatte sich ein Mann mit der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg befasst. Unter anderem formulierte er: „Kurz gesagt, an die Ukraine: Vergesst den Donbass und die Krim, begradigt die Front im Osten und beschert Putin damit einen Teilerfolg. Der Westen erkennt den neuen Grenzverlauf an und unterstützt die Ukraine weiterhin, außer bei einem Nato-Beitritt. An Putin: Gib dich mit dem Donbass und der Krim zufrieden, die Ukraine wird demokratischer Anrainerstaat und EU-Mitglied.“
Diese Sätze riefen den Unmut eines anderen Lesers hervor: „Die Meinungsfreiheit und die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sind ein hohes Gut. Aber den Leserbrief von (...) kann ich, wie die meisten seiner im Neuen Tag sehr zahlreich veröffentlichten Beiträge, nicht gutheißen.“ Es gebe Leute, die „von ihrem bequemen Wohnzimmersofa aus künftige Grenzverläufe zugunsten Russlands“ mit Beifall bedenken, kritisierte der Mann seinerseits in einem Leserbrief, der allerdings nicht veröffentlicht wurde. Und zwar deshalb, weil er ebenfalls zu den „Vielschreibern“ zählt und erst vor Kurzem auf der Leserseite zum Zuge gekommen war.
Meinungsfreiheit und Toleranz – zwei gute Stichworte. Wie groß ist unsere Toleranz, Aussagen von Menschen zu ertragen, deren Sicht nicht die unsrige ist? Nicht selten nicht allzu groß, stelle ich in meiner täglichen Arbeit fest. Die Bereitschaft, sich mit Positionen auseinanderzusetzen, die mit den eigenen nicht übereinstimmen, schwindet zunehmend. Was nicht in das eigene und kaum zu erschütternde Weltbild passt, findet keinerlei Akzeptanz. Was ausschließlich zählt, ist die eigene Sicht. Menschlich verständlich, aber eben nicht gut. Ein Leserbrief ist eine klassische Meinungsäußerung, hier handelt es sich laut Rechtsprechung um ein Werturteil, weil der Verfasser eines Leserbriefes mit diesem seinen Standpunkt aufzeigt. Im Leserbriefteil einer Zeitung kommen auch Meinungen zu Wort, die die Redaktion nicht teilt. Dies „dient der wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit“, heißt es dazu im Pressekodex, in dem der Presserat darauf hinweist, dass der Verfasser „keinen Rechtsanspruch“ auf Abdruck seiner Zuschrift hat.
„Enthält ein Leserbrief Meinungsäußerungen und Kritik, ist dies normalerweise unproblematisch – es sei denn, dass eventuell strafrechtliche Grenzen überschritten werden“, betont die Initiative Tageszeitung (ITZ) in ihrem Online-Lexikon zum Presserecht. Bei Werturteilen ist es laut ITZ auch gleichgültig, ob die Meinung „richtig“ oder „falsch“, ob sie emotional oder rational begründet ist, ob es sich um „wertvolle“ Meinungen handelt oder nicht.
Kein Problem ist es, in Leserbriefen die eigenen Standpunkte und Sichtweisen in pointierter Form wiederzugeben. Das gilt selbst für die Auseinandersetzung mit Religionen. Beleidigungen oder ehrabschneidende Äußerungen dürfen in einer Zuschrift aber nicht enthalten sein. Auch aus dem Grund, weil eine Redaktion verantwortlich ist für von ihr veröffentlichte Leserbriefe.
Dieser Text wurde gekürzt und redaktionell bearbeitet. Der vollständige Beitrag erschien in der Zeitung Der neue Tag.
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