Sich nicht so wichtig nehmen
von Gastautor
Seit einem halben Jahr gibt es auch beim Süderländer Tageblatt einen Leseranwalt. Wie das Modell funktioniert, beschreibt der Lokalchef des Blattes.
Von Papst Johannes XXIII. ist die Anekdote überliefert, ihm sei im Traum ein Engel erschienen, der ihm ins Ohr geflüstert habe „Giovanni, nimm’ dich nicht so wichtig“. Bekanntlich war Johannes XXIII. „nur“ italienischer Papst, während wir lokalen Journalisten manchmal ehrlich davon überzeugt sind, wirklich wichtig zu sein, gerade wenn wir mit den großen Tieren verkehren oder in der Kleinstadt ernsthaft glauben wollen, die Bürgermeisterwahl entscheiden zu können. Nun ja. Aber was der Engel dem Heiligen Vater ins Ohr hauchte, gilt auch für uns von der schreibenden Zunft. Auch damit wir uns nicht zu wichtig nehmen, haben wir bei der Heimatzeitung seit einem halben Jahr einen Leseranwalt etabliert.
Das Süderländer Tageblatt wird im kleinsten selbstständigen Zeitungsverlag in Nordrhein-Westfalen, der in fünfter Generation familiengeführten O. Hundt GmbH und Co. KG, herausgegeben. Es erscheint seit 1880 in Plettenberg und Herscheid, die Redaktion umfasst zehn Köpfe. Einen hauptamtlichen Ombudsmann oder Leseranwalt können wir uns nicht leisten; überdies würde er sich fürchterlich langweilen, weil die Zahl der Fälle – toi, toi, toi – sehr überschaubar und bisher unspektakulär ist. Deshalb haben wir eine ganz eigene Form des Leseranwalts kreiert.
Wir haben dem Plettenberger Rechtsanwalt Joachim Schade, der zugleich Freund der Familie und gut in der Redaktion bekannt ist, das Ehrenamt des Leseranwalts angetragen. Der Familienname Schade ist in Plettenberg mindestens so traditionsreich wie das Süderländer Tageblatt, gesellschaftlich ist Schade bestens verankert, als Anwalt hoch angesehen und etabliert. Jahrelang war er Zeremonienmeister der Plettenberger Schützengesellschaft, was der Diplomatie des guten Zusammenlebens nur förderlich sein kann. An unseren Leseranwalt kann sich jeder wenden, der mit der Berichterstattung der Heimatzeitung nicht einverstanden ist – sei es, weil er sich falsch dargestellt, unterrepräsentiert oder ausgeblendet fühlt oder an der Berichterstattung über andere etwas auszusetzen hat.
Durch einführende Berichte, den Dauerhinweis auf der Homepage und die permanente Aufnahme des „Unabhängigen Leseranwalts/Ombudsmannes“ ins Impressum wurde auf die neue Funktion hingewiesen.
Für unsere Redaktion ist es wichtig, dass eine Beschwerdeinstanz existiert, die eine starke Stellung gegenüber der Redaktion hat. Der Redaktionsleiter nahm sich dazu gerne ein Stück zurück. Schade wurde ein Einfluss-, Rede- und Schreibrecht eingeräumt. Er ist gewissermaßen als moralische Instanz und präventiv präsent, ohne im Verlagshaus zu sitzen.
Vier Fälle sind ihm bisher anvertraut worden. Es ging dabei um einen Junkie, der im Rathaus drohend auffällig und dadurch zum Thema in der Zeitung wurde. Sein Beschwerdeschreiben wurde vom Leseranwalt einfühlsam beantwortet, was den Fall bereits löste. In zwei anderen Fällen ging es um Kürzungen in Leserbriefen und um eine Zuspitzung des Briefinhalts in der Überschrift. Dazu führte der Leseranwalt vertraulich ein Gespräch mit einer Einsenderin und später mit der Redaktion. Das Problem wurde beigelegt und zum Lehrbeispiel für die Redaktion. Der vierte Fall – auf einem Foto im Mantel hatte sich ein Plettenberger erkannt und falsch dargestellt gefühlt – löste sich ohne Zutun des Leseranwalts.
Es ist für uns nicht erstrebenswert, dass Schade mit Arbeit eingedeckt wird und mit seinen Beiträgen ständig im Blatt erscheint. Je weniger er auf den Tisch bekommt, desto besser hat die Redaktion gearbeitet. Wir brauchen ihn als Korrektiv, als neutralen und verschwiegenen Mittelsmann, als moralischen Mahner, der uns durch seine Existenz immer wieder zu verstehen gibt: „Giovanni, nimm’ dich nicht so wichtig“.
Text: Stefan Aschauer-Hundt
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