Zuhören, verstehen, begründen
von Gastautor
Aus drehscheibe 10/2023
Medien-Ombudsmann, Leserbotschafter, Dialogredakteurin oder – wie diese Rolle bei der Volksstimme heißt –: Leseranwältin. Braucht’s das? Wir finden: ja. Weil es den Leserinnen und Lesern, der Redaktion, dem Medienhaus guttut. Transparenz und Gesprächsbereitschaft aktiv anzubieten, mit Kritik und Fehlern offen umzugehen, „nahbar“ zu sein, das ist für journalistische Medien heute umso wichtiger, je kategorischer ihre Glaubwürdigkeit infrage gestellt wird.
Bei der Volksstimme gibt es diese Funktion, mit wechselnden Bezeichnungen, seit mehr als 20 Jahren. 2022 habe ich dieses Amt von meinem Vorgänger Peter Wendt übernommen, mit dabei ist meine Kollegin Gudrun Oelze. Übers Jahr bearbeiten wir etwa 550 Anrufe, Mails und Briefe (außer klassischen Leserbriefen).
Unser Angebot an Leserinnen und Leser fußt auf zwei Säulen: 1. praktische Hilfe bei Alltagsproblemen und 2. Journalismus erklären. Wenig überraschend entfällt das Gros der Anliegen, etwa 400, auf den ersten Bereich, ob Ärger mit Energieversorger oder Krankenkasse, unverständliche Behördenschreiben oder andere Verbraucherthemen. Das Leseranwalts-Team hakt nach beziehungsweise vermittelt die richtigen Ansprechpartnerinnen und -partner. Juristische Beratung, etwa bei Nachbarschaftsstreitigkeiten, können und dürfen wir allerdings nicht leisten. Was das mit Journalismus zu tun hat? Wenn Menschen sich an uns wenden, dann gestatten sie uns einen Blick in ihre Lebenswelt. Die ist oft sehr anders als die, in der die meisten von uns Medienmenschen sich bewegen. Natürlich sind die Ratsuchenden nur ein Ausschnitt des gesamten Publikums. Dennoch ist der Kontakt hilfreich, um den eigenen Kompass bei der Suche nach relevanten, den Bedürfnissen unserer Leserschaft (besser) entsprechenden Themen neu auszurichten. Über ausgewählte Fälle samt Lösungen berichten wir in Print und Online – diese Texte gehören zu den meistgelesenen.
Im zweiten Bereich geht es darum, wie Journalismus funktioniert beziehungsweise funktionieren sollte. Was wir tun und wie wir arbeiten, das erklärt sich nicht von selbst. Warum sollte jemand, der nicht vom Fach ist, beispielsweise wissen, nach welchen Kriterien wir Themen auswählen, warum der Unterschied zwischen Tatsache und Meinung so wichtig ist, welche Pflichten und Rechte unser Berufsstand hat? Und schon gar nicht nehmen Leserinnen und Leser all das, was wir veröffentlichen, widerspruchslos hin. Sie ärgern sich vorrangig über Rechtschreibfehler, Gender-Sprache, (fehlende) Herkunftsnennung bei Straftaten, zu viel/zu wenig Berichterstattung über bestimmte Themen, sachliche Fehler. Die Leseranwältin geht dem nach, trägt Anregungen und Kritik und manchmal Lob in die Redaktion, antwortet individuell oder in der wöchentlichen Kolumne.
Nicht immer können wir Leserinnen und Lesern helfen beziehungsweise wollen wir der Kritik folgen. Die meisten akzeptieren dies. Denn größer als der Wunsch, Recht zu bekommen, ist das Bedürfnis, ernst genommen zu werden. Das heißt: zuhören, auch wenn man die andere Meinung absolut nicht teilt. Verstehen wollen, was hinter einem zuweilen lautstark geäußerten Vorwurf wirklich stecken mag. Entscheidungen begründen. In der Sache klar sein und dem Gegenüber Respekt erweisen. Auch wenn es Redaktionen und Leseranwältin zuweilen an Grenzen bringt – es ist der Mühe wert.
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