Stuttgart 21

„Die Leute waren zurecht wütend“

von

Heiner Geißler

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Heiner Geißler war von 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. Seit seinem Rückzug aus der aktiven Parteipolitik ist er begehrter Vermittler in gesellschaftlichen Konflikten. Zuletzt war er Vermittler im Streit um den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs.

Heiner Geißler ist eine der eigenwilligsten Gestalten in der politischen Szene der Bundesrepublik. Er war lange Jahre Generalsekretär der CDU und von 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. Fiel er früher mit starken Sprüchen gegen seine linken politischen Gegner auf, wandelte er sich mit der Zeit. Er öffnete sich sozialen Bewegungen und wurde im Jahr 2007 sogar Mitglied in der globalisierungskritischen Vereinigung Attac. Seit seinem Rückzug aus der aktiven Parteipolitik ist er begehrter Vermittler in gesellschaftlichen Konflikten. Mehrfach moderierte er die Gespräche bei Tarifstreits. Zuletzt war er Vermittler im Streit um den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs. Die drehscheibe sprach mit ihm über Stuttgart 21, wachsende Bürgerproteste und darüber, welche Rolle Lokalzeitungen darin spielen könnten.

Herr Dr. Geißler, die Pläne zum Umbau des Stuttgarter Bahnhofs nahmen alle demokratischen Hürden, gleichzeitig aber wuchs die Protestbewegung. Was ist da schief gelaufen?

Mehrere Dinge sind nicht gut gelaufen. Erstens ist dieses Projekt einfach von oben verkündet worden, von der Bahn, der Landesregierung und der Stadt Stuttgart. Alternativen wurden offiziell nicht geprüft und im Verfahren zur Debatte gestellt. Alternative Konzepte, wie zum Beispiel die Züricher Lösung oder K 21, gerieten planerisch in einen nicht mehr revidierbaren Verzug. Erschwerend kam hinzu, dass ein Bürgerbegehren, das rechtlich möglich gewesen wäre, von der Stadt Stuttgart unterlaufen worden ist. Das Verwaltungsgericht erklärte, angesichts der vorhandenen rechtlich bindenden Verträge sei eine Bürgerbefragung rechtlich unwirksam. Schließlich begann die Bahn den Bau ausgerechnet mit dem Fällen jahrhundertealter Bäume im Schlossgarten. Dadurch wurde die Geschichte emotionalisiert, sodass es zu untragbaren Auseinandersetzungen kam.

Sie haben in einem Streitgespräch im Zeit-Magazin verallgemeinernd gesagt: „In Deutschland ist es so, dass am Anfang die Entscheidung steht, dann erst werden die Leute gehört.“ Warum, glauben Sie, ist das hierzulande so?

Das ist unser obrigkeitsstaatliches Baurecht. Bei uns wird gebaut nach der Devise: „Von oben nach unten“. Der Bürger hat das, was oben beschlossen wurde, einfach zu akzeptieren, weil die Leute angeblich zu dumm sind zu begreifen, was richtig und was falsch ist. Diese Einstellung, die auch bei der Agenda 2010 von Gerhard Schröder Pate gestanden hat – diese Basta-Politik – ist im Medienzeitalter nicht mehr möglich, im Zeitalter des Internets, in dem sich innerhalb von fünf Minuten Tausende mobilisieren lassen, im Zeitalter von Facebook und einer Billion Webseiten. Da können Sie den Menschen nicht mehr ein X für ein U vormachen und par ordre de mufti sagen, da wird ein Bahnhof quergelegt, da wird ein Flughafen gebaut, eine Brücke über den Rhein gespannt etc. Diese Zeiten sind vorbei.

Im Zuge der Auseinandersetzungen um S 21 wurde der Begriff des „Wutbürgers“ geprägt. Was halten Sie davon?

Das kommt darauf an. Natürlich waren die Leute wütend – aber zu Recht. Diese „Wutbürger“ waren auch Mutbürger, weil sie für ihre Überzeugung zu Tausenden auf die Straße gegangen sind und das wichtigste Bürgerrecht neben der Teilnahme an Wahlen wahrgenommen haben: das Demonstrationsrecht.

Viele der jüngsten Proteste sind ja sehr lokale Erscheinungen und richten sich zum Beispiel gegen Windräder oder Umgehungsstraßen. Oft geht es dabei um Einzelinteressen. Der eine oder andere fühlt sich in seinem direkten Lebensumfeld gestört und protestiert. Kann darunter nicht das Gemeinwohl leiden?

Wenn Sie ein Haus mit einem Vorgarten haben und dort eine Stromtrasse verlegt werden soll, dann erscheint Ihnen das Gemeinwohl schnell in einem anderen Licht. Natürlich sollen solche Trassen gebaut werden, aber sie müssen nicht unbedingt so verlaufen, wie die Oberen es für richtig halten. Die Trassen werden gebaut nach dem Prinzip: Wo ist es am Billigsten? Und nicht nach dem Prinzip: Wo ist es am besten für den Menschen? Man muss die Strecke suchen, von der die Menschen am wenigsten betroffen sind.

Was müsste getan werden?

Wir müssen das Baurecht ändern. Jeder der ein Projekt umsetzen will – vom Großprojekt bis hin zur Ortsumgehung – muss zunächst die Idee vorstellen. Und wenn eine Behörde diese Idee für richtig hält, dann muss sie diese der Öffentlichkeit präsentieren. Und dann wird darüber diskutiert, auch unter Zuhilfenahme von Verfahrensweisen direkter Bürgerdemokratie. Etwa wie wir es in Stuttgart mit der Schlichtung gemacht haben. Unter dem Motto: Alle an einen Tisch, alle Fakten auf den Tisch. Wenn dieses Szenario abgeschlossen ist, kommt die Phase zwei, da müssen die Alternativen vorgestellt werden. Dann kann erst über den Grundsatz entschieden werden. Aber erst dann. Entweder von den Parlamenten oder durch eine Volksabstimmung. Dann erst wird gebaut. Der Prozess wird dadurch wesentlich verkürzt, weil die Menschen eingebunden sind. Anschließend gibt es nicht mehr die langwierigen Proteste, die rechtlichen Einsprüche und so weiter.

Eine unverzichtbare Instanz bei der Vermittlung politischer Entscheidungen sind Tages- und Lokalzeitungen. Erfüllen sie ihre Vermittlungsaufgabe richtig oder sehen Sie da Mängel?

Die Zeitungen können hier eine wichtige Rolle spielen. Ob sie immer einen objektiven Beitrag geleistet haben in Sachen Transparenz und Faktenchecks, das ist eine andere Frage. An vielen Orten gibt es Monopolzeitungen, und die Lokalredaktionen sind abhängig von Behörden, dem Bürgermeister und so weiter. Bei dem Szenario, das ich geschildert habe, müssen die Verfahren entsprechend gestaltet werden. Der Oberbürgermeister, die Stadträte, der Landrat müssen an einen Tisch mit den Protestierenden, mit Umweltverbänden, Greenpeace, dem Bund Naturschutz und so weiter. Dann werden die Fakten überprüft, und dieser Faktencheck wird transparent gemacht, über die Lokalpresse, das lokale Fernsehen, wie es in Stuttgart der Sender Phönix und der SWR geleistet haben. Die Informationen werden ins Internet gestellt, so wird die Bevölkerung umfassend informiert. Bei Stuttgart 21 war die Presse voll involviert und hat die Ergebnisse der Schlichtung zusammengefasst und kommentiert.

Die Rolle der Zeitungen in solchen Konflikten ist kompliziert. Wie man’s auch macht, man läuft Gefahr, Leser zu verprellen. Sollten sich die Zeitungen im Konfliktfall inhaltlich positionieren?

Die Zeitung sollten das Pro und Kontra objektiv darstellen. Im Kommentar kann jeder schreiben, was er mag.

Sind diese Proteste nicht auch eine Art Markenzeichen der Demokratie? Anderswo ist so etwas nicht möglich.

Selbstverständlich sind sie ein Markenzeichen. Aber sie sind ja erst dadurch entstanden, dass der Faden gerissen ist zwischen der Bevölkerung, der Regierung und der Wirtschaft. Die Ablehnung der Ökonomisierung der Gesellschaft ist immens. 80 Prozent der Deutschen trauen unserem wirtschaftlichen System nicht mehr, und sie übertragen dieses Misstrauen auf die Politik. Sie sehen, dass etwa in Fukushima die Sicherheitsstandards nur auf Erdbebenstärke 8 ausgerichtet waren, obwohl bekannt war, dass auch 9 möglich ist – und das alles aus Kostengründen. Das heißt Geld sparen – und das auf dem Rücken der Menschen. Sie sehen ein System, in dem die Gier nach Geld die Hirne der Verantwortlichen regelrecht auffrisst und sich das System gegen die Menschen selbst richtet. Deswegen verlieren die Menschen das Vertrauen in die Politik und sagen: Wir nehmen die Sache jetzt selbst in die Hand. Dieses verlorene Vertrauen muss wieder hergestellt werden. Und das geht nur mit totaler Transparenz.

Interview: Stefan Wirner

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