Presserat

Die Gerüchteküche bleibt kalt

von

aus drehscheibe 03/2022

Der Fall:

Eine Regionalzeitung berichtet über einen Suizid am örtlichen Bahnhof. Den Einsatzkräften habe sich ein „schreckliches Bild“ geboten. Ein älterer Herr habe sich vor einen einfahrenden ICE geworfen. Die Reisenden seien per Durchsage aufgefordert wor-den, die Abteile zu verlassen. Wenig später seien Busse eingetroffen, um sie an ihr Ziel zu bringen. Die Redaktion zeigt zudem Fotos der Rettungskräfte am Bahnhof und das Foto der mit einem Tuch abgeschirmten Unglücksstelle. Ein Leser der Zeitung hält die Berichterstattung für unangemessen. Die Redaktion nenne Details zum Suizidgeschehen. Er vermisst überdies einen Hinweis auf Beratungsstellen für Suizidgefährdete.

Die Redaktion:

Der Chefredakteur teilt mit, die Redaktion berichte über Suizide nur dann, wenn sie im öffentlichen Raum mit deutlicher Wirkung für die Öffentlichkeit erfolgt seien. Er sieht in der Berichterstattung deshalb keinen Verstoß gegen den Pressekodex. Der kurz und sachlich informierende Bericht trage dazu bei, die in vergleichbaren Fällen schnell brodelnde Gerüchteküche abzukühlen. Die Redaktion zeige nicht die Leiche, nenne auch nicht Namen und die Herkunft des Toten. Die Person sei trotz der Angabe „ein älterer Herr“ wirksam anonymisiert worden. Über eines der Fotos ließe sich zwar aus Pietätsgründen streiten, doch gehe er auch in diesem Fall nicht von einem Kodexverstoß aus. Den unterbliebenen Hinweis auf Beratungsstellen sieht der Chefredakteur nicht als Verstoß gegen presseethische Grundsätze.

Das Ergebnis:

Der Beschwerdeausschuss erkennt keine Verletzung der Ziffer 8 des Pressekodex (Schutz der Persönlichkeit). Die Beschwerde ist unbegründet. Die Mehrheit im Gremium ist der Auffassung, dass die in Richtlinie 8.7 gebotene Zurückhaltung bei der Angabe von Details zu Suiziden nicht verletzt wurde. Die Angaben über die Umstände des Suizids sind durch ein öffentliches Interesse gedeckt, da dieser erhebliche Auswirkungen auf das Geschehen am Bahnhof hatte.

Der Kodex:

Ziffer 8 – Schutz der Persönlichkeit

Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein. Die Presse gewährleistet den redaktionellen Datenschutz. Journalisten und Verleger üben keine Tätigkeiten aus, die die Glaubwürdigkeit der Presse in Frage stellen könnten.

Richtlinie 8.7 – Selbsttötung

Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.

 

Autorin

Sonja Volkmann-Schluck ist Journalistin und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit.



E-Mail: volkmann-schluck@presserat.de

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