Ein Recht auf Vergessen
von Gastautor
aus drehscheibe 10/22
Der Fall:
Eine Lokalzeitung erinnert an eine 40 Jahre zurückliegende Bluttat. Zwar nennt die Redaktion im Text nur den Vornamen des Mädchens, das der Tat zum Opfer fiel, dem Beitrag ist jedoch auch der damalige Fahndungsaufruf der Polizei, aus dem der vollständige Name des Opfers ersichtlich ist, und eine Ortsskizze beigefügt, in der unter anderem der Tatort und das Wohnhaus der Großmutter eingezeichnet sind.
Ein Leser der Zeitung meint, die Redaktion habe insbesondere durch die Nennung des Vornamens und durch die Angaben zum ehemaligen Wohnort gegen den Opferschutz und den Persönlichkeitsschutz der Angehörigen verstoßen. An der detaillierten Schilderung eines 40 Jahre zurückliegenden Mordes an einem Kind bestehe kein überwiegendes Informationsinteresse. Es gebe zudem ein Recht auf Vergessen, das der Artikel missachte.
Die Redaktion:
Die Redaktion verweist darauf, dass an der Information über Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit bestehe. Es sei grundsätzlich Aufgabe der Presse, darüber zu berichten.
Den Schutz des Opfers habe sie gewahrt. Das Opfer sei nicht identifizierbar, werde weder in Wort noch Bild öffentlich gemacht. Das Privatleben des Opfers bleibe unerwähnt. Für ein überwiegendes öffentliches Interesse und damit eine Berichterstattung auch Jahre später spreche die außergewöhnlich schwere und in ihrer Art und Dimension besondere Straftat und dass sie in aller Öffentlichkeit geschehen sei. Zudem habe es seinerzeit eine bundesweite Fahndung in Fernsehen und Rundfunk gegeben mit darauffolgenden Hunderttausenden Anrufen. Im Jahr der Tat sei das ein äußerst seltenes Vorgehen gewesen. Darüber hinaus habe sich noch Jahre später der Bundesgerichtshof als oberstes Gericht mit dem Fall befasst. Dessen Urteile wirkten bis in die Gegenwart.
Das Ergebnis:
Der Presserat erkennt Verstöße gegen den Persönlichkeitsschutz nach Ziffer 8 und eine unzulässige Sensationsberichterstattung nach Ziffer 11 des Pressekodex und spricht eine Missbilligung aus.
Zwar besteht auch heute noch ein allgemeines Informationsinteresse an dem Mordfall, da das Verbrechen auch 40 Jahre nach der Tat den kleinen Ort und das kollektive Gedächtnis geprägt hat. Jedoch verletzt die gewählte Art und Weise der Darstellung sowohl den Persönlichkeitsschutz des Opfers als auch den der Angehörigen und ist darüber hinaus unangemessen sensationell.
Entgegen den Ausführungen der Redaktion ist die Berichterstattung sehr wohl identifizierend, da auf dem im Beitrag enthaltenen Fahndungsplakat der vollständige Name des Opfers abgedruckt ist. Zudem ist auf der im Beitrag ebenfalls eingefügten Karte das Haus der Großmutter markiert. Beide Informationen unterfallen dem Schutz der Persönlichkeit nach Ziffer 8 des Pressekodex.
Der Kodex:
Ziffer 8 – Schutz der Persönlichkeit
Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein. Die Presse gewährleistet den redaktionellen Datenschutz.
Ziffer 1 – Sensationsberichterstattung, Jugendschutz
Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid. Die Presse achtet den Jugendschutz.
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