Presserat

Kranken Tatverdächtigen abgebildet

von

aus drehscheibe 12/20

Der Fall 

Eine Boulevardzeitung berichtet online über die Tötung des Sohns des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Gregor S. (57) habe den Chefarzt der Berliner Schlosspark-Klinik bei einem Vortrag mit einem Messer angegriffen und ihn dabei tödlich verletzt. Ermittlern zufolge sei der Mann psychisch krank. Er habe im Wahn gehandelt. Als Motiv habe er Hass auf den ehemaligen Bundespräsidenten angegeben. Unter der Überschrift des Artikels ist ein großes Foto des mutmaßlichen Täters platziert. Ein Leser der Zeitung – ein Arzt – beschwert sich beim Presserat. Das Foto verletze das Persönlichkeitsrecht eines nicht verurteilten Beschuldigten und stigmatisiere einen offensichtlich psychisch schwer kranken Menschen.

Die Redaktion 

Der Chefredakteur stellt fest, es sei der Presse ausdrücklich aufgetragen, über Straftaten und Ermittlungsverfahren zu berichten (Ziffer 8, Richtlinie 8.1, Absatz 1, Pressekodex). Die Veröffentlichung von Namen, Fotos und anderen Angaben, durch die Verdächtige oder Täter identifizierbar werden könnten, stoße dann nicht auf presseethische Bedenken, wenn das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen des Betroffenen überwöge. Dies sei hier der Fall. Überdies betont der Chefredakteur, dass die Redaktion dem Informationsauftrag der Presse nachgekommen sei und das Geschehen ausgewogen dargestellt habe.

Das Ergebnis 

Der Beschwerdeausschuss stellt einen Verstoß gegen die Ziffer 8 des Pressekodex in Verbindung mit Richtlinie 8.6 (Erkrankungen) fest. Es ist unbestritten, dass über die schwere Straftat bei der öffentlichen Veranstaltung berichtet werden durfte und das Geschehen ein großes öffentliches Interesse nach sich zog. Der Sachverhalt wäre aber auch ohne identifizierende Darstellung des Verdächtigen verständlich gewesen. Nach Richtlinie 8.6 soll über psychische Erkrankungen in der Regel nicht ohne Zustimmung der Erkrankten berichtet werden. In diesem Fall überwiegen die schutzwürdigen Interessen des psychisch kranken Tatverdächtigen insofern, als dass kein öffentliches Interesse an der Veröffentlichung seines Fotos bestand.

Kodex

Ziffer 8 – Persönlichkeitsschutz

Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit

Richtlinie 8.6 – Erkrankungen

Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden gehören zur ­Privatsphäre. In der Regel soll über sie nicht ohne Zustimmung des Betroffenen berichtet werden

Vivian Upmann

Sonja Volkmann-Schluck

ist Journalistin und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit.

E-Mail: volkmann-schluck@presserat.de

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