Selbsttötung in der Zeitung
von Edda Eick
Der Fall:
Eine Tageszeitung thematisiert in ihrer Online-Ausgabe ausführlich zwei Suizide im regionalen Bahnverkehr. Zum einen wird von einem 77-jährigen Mann gesprochen, der bewusst aufs Gleisbett gestiegen, von einem Zug erfasst und 50 Meter mitgeschleift worden sei. Danach wird über eine 72-jährige Rollstuhlfahrerin berichtet, die absichtlich mit ihrem Rollstuhl auf das Gleisbett gerollt sei, um sich umzubringen. Über die 72-Jährige heißt es zudem, dass sie ganz in der Nähe der Station wohne. In beiden Fällen wird der betreffende Tatort genau genannt. Ferner berichtet die Redaktion, welche Auswirkungen die beiden Vorfälle auf den Bahnverkehr in der Region gehabt hätten. Ein Leser kritisiert einen Verstoß gegen den Pressekodex. Die Zeitung schildere detailliert zwei Suizide, vor allem den der Rentnerin. Es sei wissenschaftlich erwiesen, dass detaillierte Berichte zu Nachahmungstaten führen könnten.
Die Redaktion:
Man sei sich der Gefahr von Nachahmungstätern bewusst, entgegnet die Redaktion. Deshalb berichte man prinzipiell nicht über Suizide, von denen es täglich mehrere in der Region gebe. Allerdings mache die Redaktion Ausnahmen. Dies sei etwa der Fall, wenn wichtige Zugverbindungen stundenlang unterbrochen seien. Dann lege die Redaktion aber Wert darauf, auf detaillierte Schilderungen einer Selbsttötung zu verzichten und vor allem über die Störungen im Verkehrsfluss zu informieren. Dies sei auch bei dem kritisierten Artikel so geschehen. Insbesondere im Fall der 72-jährigen Rentnerin habe die Redaktion allerdings nicht darauf verzichten können, zumindest die Umstände des Geschehens anzudeuten. Der Grund hierfür sei gewesen, dass es zuvor Gerüchte gegeben habe, es handele sich um eine Straftat oder um den tragischen Unfall einer Rollstuhlfahrerin.
Das Ergebnis:
Die Veröffentlichung verletzt die Ziffer 8, Richtlinie 8.7 des Pressekodex. Danach gilt für die Berichterstattung über Selbsttötungen Zurückhaltung. Dies betrifft insbesondere die Schilderung näherer Begleitumstände. Diese Vorgabe hat die Redaktion verletzt, indem sie Details zum möglichen Ablauf der mutmaßlichen Suizide geschildert hat („Nach ersten Erkenntnissen stieg der Mann bewusst ins Gleisbett“, „Eine 72-Jährige war mit ihrem Rollstuhl auf das Gleisbett gekippt (...) wurde vom Zug erfasst und 50 Meter mitgeschleift.“). Mit Blick auf mögliche Nachahmer sollten solche Details zum Ablauf und auch zu den handelnden Personen („Die 72-Jährige wohnt ganz in der Nähe der Station“) nicht erwähnt werden. Der Presserat gibt der Redaktion recht, dass grundsätzlich ein öffentliches Interesse daran bestehe, darüber zu berichten, wenn eine große Verkehrsroute gesperrt ist. Die Verhältnismäßigkeit wurde jedoch nicht gewahrt. Der Schwerpunkt der Berichterstattung lag auf den Details der mutmaßlichen Suizide und nicht, wie sich das Geschehen auf die Fahrgäste ausgewirkt hat. Auf Letzteres sollte sich die Redaktion in einer zurückhaltenden Berichterstattung beschränken. Eine Missbilligung wurde ausgesprochen.
Der Kodex:
Ziffer 8 - Schutz der Persönlichkeit
Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein. Die Presse gewährleistet den redaktionellen Datenschutz.
Richtlinie 8.7. – Selbsttötung
Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.
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