Ein Fall für den Presserat

Umfragewerte falsch interpretiert

von

Der Fall:

In einer Kleinstadt ist die Vollendung des städtischen Hafens ein Thema, das die örtliche Zeitung in der Print- und Online-Ausgabe begleitet. Die Einwohner der Stadt „sind strikt dagegen, den umstrittenen Stadthafen (…) noch zu vollenden“, heißt es im Artikel. In einer Umfrage der örtlichen Linkspartei hätten sich 95 Prozent der Bewohner gegen den Weiterbau ausgesprochen. Die Redaktion weist in ihrem Artikel darauf hin, dass die Linkspartei 6.700 Umfragebögen im Stadtgebiet verteilt habe und davon 224 beantwortet zurückgekommen seien. Ein Leser der Zeitung beschwert sich beim Presserat. Er weist darauf hin, dass 224 Umfrageteilnehmer nur etwas mehr als ein Prozent der wahlberechtigten Einwohner der Stadt (19.446) seien. Er kritisiert, dass die Zeitung auf Basis dieser dünnen Faktenlage sich die Aussagen der Linkspartei zu eigen mache. Der Artikel sei tendenziös, so sein Fazit.

Die Redaktion:

Die Chefredakteurin der Zeitung räumt gegenüber dem Presserat ein, dass die Redaktion Fehler gemacht habe. Die Schlussfolgerung der Redaktion, die Bewohner der Stadt seien strikt dagegen, den umstrittenen Stadthafen zu vollenden, sei eine „Überinterpretation“. Die Aussage sei durch den Inhalt der Einwohnerbefragung der Linkspartei nicht gedeckt. Sie lasse fälschlicherweise den Schluss zu, es habe sich um eine repräsentative und unabhängig erstellte Umfrage gehandelt. Die Chefredakteurin bedauert dies und hat nach eigenen Angaben den Vorgang zum Anlass genommen, die entsprechenden Abläufe nochmals zu überprüfen. Sie schließt ihre Stellungnahme mit dem Hinweis ab, mit Ausnahme von Überschrift, Unterzeile und Teaser sei der Beitrag jedoch insgesamt eine sehr ausgewogene, detaillierte, unabhängige und von allen Seiten beleuchtende Einordnung.

Das Ergebnis:

Für den Presserat ist der Fall eindeutig: Die Berichterstattung verletzt die in Ziffer 2 des Pressekodex definierte journalistische Sorgfaltspflicht. Das Ergebnis der Umfrage wird nicht korrekt wiedergegeben. Die Behauptung, dass kaum ein Bewohner der Stadt den Hafen will und die Bürger strikt dagegen seien, den Hafen zu vollenden, ist so nicht haltbar. Nur ein winziger Teil der Bevölkerung (224 von 19.446) hat an der Umfrage teilgenommen. Zudem war die Umfrage nicht repräsentativ. Die Leser hätten darüber informiert werden müssen. Da das nicht geschehen ist, entsteht beim Leser der Eindruck, als habe er es mit einer repräsentativen Umfrage zu tun. Der Presserat spricht eine Missbilligung aus.

Der Kodex:

Ziffer 2 – Sorgfalt

Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.

Ziffer 2.1 – Umfrageergebnisse

Bei der Veröffentlichung von Umfrageergebnissen teilt die Presse die Zahl der Befragten, den Zeitpunkt der Befragung, den Auftraggeber sowie die Fragestellung mit. Zugleich muss mitgeteilt werden, ob die Ergebnisse repräsentativ sind.

Edda Eick

Autorin

Edda Eick ist Journalistin und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit.
Telefon 030 – 36 70 07-0
E-Mail: eick@presserat.de

Veröffentlicht am

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Kommentieren

Bei den mit Sternchen (*) markierten Feldern handelt es sich um Pflichtfelder.