Zu genau geschildert
von Oliver Schlappat
Eine Zeitung berichtet – ohne Namen zu nennen, aber sehr detailliert – über Missbrauchsvorwürfe gegen einen Angeklagten. Eine Leserin sieht die Interessen des Opfers verletzt?
Der Fall:
Unter der Überschrift „Siebenjährige vom eigenen Onkel missbraucht“ berichtet eine Lokalzeitung über einen Gerichtsprozess, in dem ein Kriminalfall behandelt wird, der sich in einer Kleinstadt ereignet hat. Dabei beschreibt die Zeitung Vorwürfe gegen den Angeklagten sehr detailliert. Schließlich erwähnt der Artikel auch, dass der Angeklagte sich schuldig bekenne und die Verfahrensbeteiligten sich auf das Strafmaß verständigt hätten. Das Ziel dieses Vorgehens sei es gewesen, dem betroffenen Mädchen die Aussage vor Gericht ersparen zu können. Eine Leserin beschwert sich über den Artikel. Trotz der Anonymisierung aller Beteiligten wüssten viele Menschen im Ort, um wen es sich handele. Umso schlimmer sei es, dass die Handlungen des Täters in sehr vielen Details geschildert worden seien. Dies sei aus ihrer Sicht zum Verständnis der Vorwürfe nicht notwendig gewesen. In der Folge werde der Bericht nun schwerwiegende Auswirkungen auf das Opfer haben.
Die Redaktion:
Der Chefredakteur der Zeitung erklärt in seiner Stellungnahme, dass er die Beschwerde für berechtigt hält. Die Details des Missbrauchs, wie sie in dem Artikel enthalten seien, gehörten nicht in die Öffentlichkeit. Das Gespräch mit dem Autoren habe ergeben, dass dieser die Details der Tat so ausführlich dargestellt habe, um die Schwere der Tat herauszustellen. Die Redaktion bedauere den Fall und stellt klar, dass sich eine Berichterstattung dieser Art nicht wiederholen werde.
Das Ergebnis:
Die Zeitung hat gegen die Ziffer 11 des Pressekodex (Sensationsberichterstattung) verstoßen. Die von Richtlinie 11.3 gezogene Grenze der Berichterstattung im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen wird im vorliegenden Fall deutlich überschritten. Die Darstellung von Einzelheiten der Tat ist geeignet, das Missbrauchsopfer dauerhaft zu stigmatisieren. Das Kind wird durch die Berichterstattung in seinem Leid zur Schau gestellt. Die Erleichterung, welche das Mädchen dadurch erfahren hatte, dass ihr die Aussage vor Gericht erspart geblieben ist, wird dadurch nachträglich konterkariert. Ein nachvollziehbares Interesse der Öffentlichkeit an einer so detaillierten Beschreibung der Taten besteht nicht. Zwar hat der Presserat bei der Wahl seiner Maßnahme die Einsicht der Redaktion berücksichtigt, jedoch wiegen die Auswirkungen des Verstoßes so schwer, dass er als Maßnahme eine Missbilligung ausspricht.
Der Kodex:
Ziffer 11 – Sensationsberichterstattung
Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt,
Brutalität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz.
Richtlinie 11.3 –Unglücksfälle und Katastrophen
Die Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen. Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.
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