Profis halten wichtig und nichtig auseinander
von Christoph Linne
150 Jahre ist die Oberhessische Presse in diesem Jahr geworden. Aus diesem Anlass hat Chefredakteur Christoph Linne Gedanken zur Zukunft des Lokaljournalismus niedergeschrieben, die wir hier dokumentieren. Über vier Tugenden, die jeden Wandel überdauern: hartnäckige Recherche, treffende Analyse, klare Sprache und deutliche Worte.
Lebendig, überraschend, meinungsstark: So abwechslungsreich kann lokaler Journalismus sein. Die Voraussetzungen für die Profis, ihr Publikum zu erreichen, zu begeistern, erscheinen perfekt: Medienmacher haben mehr Möglichkeiten denn je, sich auszudrücken, Inhalte zu formen und Themen zu gestalten. Texte, Ticker und Audios, Slideshows, Videos und Livestreams, Fotos, Daten und Karten – Journalisten haben in kürzester Zeit jede Menge handwerkliche Freiheiten hinzugewonnen.
Beste Voraussetzungen für die Zukunft, möchte man meinen. Ein geradezu verlockendes Umfeld für Gründer. Nur: Wer geht tatsächlich ins Risiko und investiert in ein lokales Nachrichten-Startup? Womöglich sogar ganz abseits der gedruckten Zeitung? Fehlanzeige! Allenfalls wagen bestehende Verlage mal da eine Frischzellenkur, mal dort eine vorsichtige Kurskorrektur und noch seltener testen sie völlig neue Produkte im Markt.
Die Zwickmühle: Wer im lokalen Nachrichtengeschäft aktiv ist, muss einen hohen redaktionellen und personellen Aufwand betreiben und erreicht dabei doch nur ein begrenztes Publikum. Und selbst wer seine überschaubare Zielgruppe und ihre Bedürfnisse bestens kennt und für sie maßgeschneiderte Inhalte liefert, kann wirtschaftlich scheitern, weil die Kosten die Erlöse deutlich übersteigen. Zu gering ist die Bereitschaft geworden, selbst für unmittelbar relevante oder exklusive Inhalte zu zahlen. So wird das Internet den Journalismus nicht zerstören, womöglich aber dessen Finanzierung.
Zugleich haben auch die Nutzer so viele Möglichkeiten wie nie, sich zu informieren, zu kommunizieren und sich in Debatten Gehör zu verschaffen. Das kann leicht den Eindruck erwecken, sich praktisch selbst und jederzeit Zugang zu allen nötigen Informationen verschaffen zu können. Ein Irrtum!
Weil der steigende Mobilkonsum uns als Nutzer überall erreichbar macht und wir von überall auf Angebote zugreifen können, steigt das Risiko, manipuliert oder falsch informiert zu werden. Wer das wiederum als Anbieter für eigene unternehmerische oder politische Zwecke gebrauchen oder missbrauchen kann, tut dies. Die großen Technologie-Unternehmen mit ihren lukrativen Suchfunktionen und einträglichen Algorithmen lassen grüßen.
Genau in dieser Grauzone liegt unverändert die große Chance für Journalisten: Sie haben es buchstäblich in der Hand, ein aus Sicht der Nutzer wertvolleres und nützlicheres Angebot zu liefern. Sie müssen mit ihrer Arbeit jedoch erkennbare Unterschiede aufzeigen zu einseitig gefärbten Blogs und auf Stimmungsmache getrimmten Filterblasen. Dort, wo sich Gleichgesinnte hochschaukeln und sich gegenseitig in ihrer Meinung bestärken, wird es schnell laut und vielstimmig, doch selten differenziert.
Qualitätsjournalismus, der diesen Namen verdient, ist am ehesten in der Lage, richtig und falsch, wichtig und nichtig auseinanderzuhalten. Profis sind ausgerüstet mit erprobten journalistischen Tugenden. Sie sind erfahren im Umgang mit freundlichen Zeitgenossen, die ihnen etwas weismachen, einflüstern oder schönreden wollen – und immun dagegen. Zugleich können sie unfreundlichen Zeitgenossen, Trollen und Hetzern wirkungsvoll etwas entgegensetzen: Genauigkeit, Transparenz und Unvoreingenommenheit.
Gut ausgebildete Redakteure wissen um die Macht von hartnäckiger Recherche, treffender Analyse und klarer Sprache. Sie haben den Mut, sich zwischen die Stühle zu setzen, gegen Eliten aufzulehnen und ihre Stimme zu erheben. Kurz gesagt: Wer sonst sollte das Dickicht aus Desinformation lichten – auch und gerade im Internet?
Von Journalisten braucht es weiterhin die Bereitschaft, die eigene Position neu zu definieren, digitale Herausforderungen als Chancen anzunehmen und die neue Rolle selbstbewusst und im Zusammenspiel mit engagierten Nutzern zu verfeinern. Verlage müssen durch technologische Fortschritte, kluge Kooperationen und einer ausbalancierten Mischung aus Bezahlmodellen und Werbeerlösen ihre wirtschaftlichen Grundlagen neu ordnen. Und nicht zuletzt braucht es die Leser und Nutzer, die den Wert guter Nachrichten und wertiger Angebote auch honorieren.
Zur Jubiläumsserie der Oberhessischen Presse
Hier geht's zur drehscheibe-Serie über Sonderausgaben.
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