„Innovation im Lokaljournalismus ist der Mut, etwas zu lassen“
von Nina Sabo
Astrid Csuraji und ihr Kollege Jacob Vicari sind überzeugt: „Der Journalismus ist nicht am Ende. Im Gegenteil. Er fängt gerade an, richtig spannend zu werden.“ Anreize, Konzepte und Lösungen für neue Formen im Journalismus bieten sie mit ihrem Innovationslabor tactile.news. Über spannende Projekte in Kooperation mit Lokalredaktionen hat Csuraji im Interview gesprochen.
Frau Csuraji, Sie haben tactile.news mit Ihrem Kollegen Jakob Vicari gegründet. Was genau steckt dahinter?
Wir definieren tactile.news als Innovationslabor. Als Labor versuchen wir, neue Wege für den Journalismus zu finden, indem wir Technologien einbeziehen, weil wir davon überzeugt sind: Neue Technologien sind nicht unser Feind, sondern können unseren Job eigentlich nur besser machen. Statt über Technik zu reden, nehmen wir sie selbst in die Hand und probieren sie aus. Und wenn wir etwas gefunden haben, das wir für eine gute Lösung halten, gehen wir auf Redaktionen zu und sagen zum Beispiel: „Ihr habt doch Probleme, junge Familien anzusprechen. Wir haben da etwas ausprobiert, das für junge Familien gut funktionieren kann. Wollt ihr nicht ein Pilotprojekt mit uns starten?“ Daneben ist tactile.news auch beratend tätig und bietet klassische Agentur-Leistungen an. Das Herzstück unseres Geschäfts ist aber das Experimentelle.
„Menschen wollen Informationen haben, auch die Jüngsten sind an der Welt interessiert, aber die Informationen dümpeln irgendwo rum und erreichen sie nicht.“
Was hat Sie dazu bewegt, tactile.news für Lokalredaktionen zu gründen?
Ursprünglich haben wir tactile.news nicht als Labor für den Lokaljournalismus gegründet, sondern für unsere Kinder. Denn wir haben festgestellt: Sie werden vom Journalismus nicht erreicht. Außer Geolino und Kika ist nicht viel Qualität zu finden, aber im Kinderzimmer fliegt ganz viel anderes Zeug rum – da steckt bloß kein Journalismus drin. Warum eigentlich nicht? So ist der Name tactile.news entstanden, die Nachrichten zum Anfassen. Wir haben uns vom Kinderzimmer inspirieren lassen und uns gefragt: Warum kann man Nachrichten nicht erspielen, zum Beispiel mit Lego oder der toniebox? Daher rührte unsere Gründungsidee: Menschen wollen Informationen haben, auch die Jüngsten sind an der Welt interessiert, aber die Informationen dümpeln irgendwo rum und erreichen sie nicht. Und ehrlich gesagt ist das in Lokalredaktionen oft gar nicht so anders: Da sind Informationen, die die Leute nicht erreichen, weil sie das Produkt nicht in die Hand nehmen. Sie sagen: Papier brauche ich nicht, Tageszeitung brauche ich nicht – aber die Informationen brauchen sie vielleicht doch.
„Wie kann Journalismus stattfinden, offline und draußen, ohne die Zeitung oder über die Zeitung hinaus?“
Welche Rolle spielt der digitale Raum für tactile.news?
Für uns war klar: Wir müssen den digitalen Weg für mehr Dialog finden. In den Sozialen Medien ist das Dialogverhalten entweder wenig konstruktiv oder sehr nischig. Da ist es eher so: Jeder blökt jeden an und man hat viel damit zu tun, zu monitoren. 2020 haben wir als Gegenmodell die Dialog-Software 100eyes erarbeitet, die vom PrototypeFund und dem Bundesbildungsministerium unterstützt wurde. Damit helfen wir Lokalredaktionen, mit Menschen in Dialog zu treten, die ihr Produkt vielleicht nicht lesen, oder mit Menschen zu reden, die ihr Produkt nutzen und von ihnen qualifiziertes Feedback zu bekommen. Und zwar besseres Feedback als vielleicht über Instagram oder Facebook.
Wie funktioniert das Tool 100eyes genau?
Im Grunde ist 100eyes eine Messenger-Zentrale, über die die Redaktion Fragen gezielt an eine Community schicken kann. 100eyes ist eine browserbasierte Software. Man loggt sich ein, schreibt eine Frage, drückt auf Senden und dann bekommen 50 oder 100 Leute diese Frage dort zugestellt, wo sie am liebsten kommunizieren, zum Beispiel über Signal, Threema oder Telegram oder per E-Mail. 100eyes sammelt dann alle Antworten der Teilnehmenden ein und listet sie als übersichtlichen Thread-Verlauf auf. Am Ende hat man dann zum Beispiel 50 verschiedene Antworten mit Text, Fotos, Emojis oder Sprachnachrichten übersichtlich in einem Verlauf zusammengefasst und kann einzelnen Leuten oder allen Nachfragen stellen und so immer tiefer in ein Thema eintauchen.
„Redaktionen wenden sich an uns mit der Frage: Wie können wir Menschen mit einem bestimmten Lebensmodell abholen?“
Können Sie Beispiele nennen, welche Projekte daraus entstanden oder im Entstehen sind?
Eine Lokalzeitung in Süddeutschland kam auf uns zu und hat gesagt: Wir sind hier umgeben von Konkurrenz. Menschen aus der Metropole ziehen in unsere Region, weil das Wohnen hier günstiger ist und sie Familie haben. Zum Arbeiten pendeln sie dann in die Metropole, verdienen dort das Geld und behalten ihr Zeitungsabo aus der Großstadt. Oder sie bestellen die Zeitung ab und lesen keine Lokalzeitung mehr. Aber uns lesen sie nicht. Die Redaktion wendet sich dann mit dem Anliegen an uns, diese Menschen abzuholen und sie zu befragen: Was braucht ihr? Welche Informationen können nur wir euch liefern, weil wir hier vor Ort das Wissen einsammeln? Und was macht unsere Arbeit für euch so interessant, dass ihr auch bereit seid, dafür Geld auszugeben?
Was ist das Ziel von tactile.news?
Unser Ziel ist es, Redaktionen im Veränderungsprozess konkret zu helfen. Wir halten nix von Brainstormings und langatmigen Meetings. Lieber mal etwas ausprobieren und einfach machen. . Auch wenn es nicht repräsentativ ist, erfahrt doch mal von 50 Menschen, wie ihre Lebenswirklichkeit aussieht und werdet schlauer daraus. Dann nähert ihr euch viel schneller einem neuen Produkt, als wenn ihr das am weißen Brett in der Redaktion durchspielt.
„Viele Leute glauben, Innovation heißt, was Neues zu machen. Ich sage, man kann nur was Neues machen, wenn man etwas Altes lässt.“
Zum Schluss: Wie würden Sie dem Begriff „Innovation“ im Lokaljournalismus Bedeutung einhauchen?
Innovation im Lokaljournalismus ist für mich der Mut, etwas zu lassen. Viele Leute glauben, Innovation heißt, etwas Neues zu machen. Ich finde, man kann nur etwas Neues machen, wenn man etwas Altes lässt. Und diese Bereitschaft fehlt vielen. Oft sind Chefs bereit, die Redaktion etwas Neues ausprobieren zu lassen, aber in der Regel wird niemand extra dafür freigestellt oder das sonstige Arbeitspensum reduziert. So führt Innovation eher zum Verschleiß, nicht zum Aufbruch. Das ist die unbequeme Wahrheit von Innovation, über die meiner Meinung nach viel zu wenig gesprochen wird. Es braucht die Bereitschaft, auf etwas zu verzichten. Zum Beispiel auf den täglichen Druck einer Zeitung auf Papier.
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