Interview

„Rassismus bedroht den Zusammenhalt“

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Sina Arnold befasst sich wissenschaftlich mit Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. (Foto: Felix Schmitt).
Sina Arnold befasst sich wissenschaftlich mit Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. (Foto: Felix Schmitt).

Frau Arnold, welche aktuellen Fragen stellen sich Ihrer Meinung nach derzeit am dringlichsten, wenn es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Debatte über Migration geht?

Da gibt es natürlich viele Themen, aber hervorheben möchte ich zwei Aspekte: Einerseits die Bedrohung der postmigrantischen Gesellschaft, verstanden als eine offene, liberale Gesellschaft der Vielen, in der die Tatsache, dass jede dritte Person einen Migrationshintergrund hat, eine Selbstverständlichkeit ist. Bedroht wird diese Gesellschaft aktuell vor allem durch das Erstarken der AfD und extrem rechter Strukturen, die mit ihr zusammenhängen. Das hat direkte Auswirkungen auf einen großen Teil der Bevölkerung, eben auf dieses Drittel, das eine Migrationsgeschichte hat, aber auch auf Menschen, die für so eine postmigrantische Gesellschaft einstehen. Rassismus bedroht den Zusammenhalt, so könnte man es ausdrücken. Das hat im Übrigen auch Auswirkungen darauf, ob überhaupt qualifizierte Arbeitskräfte hierherkommen wollen oder nicht. Bei den beliebtesten Zielen zum Arbeiten ist Deutschland in einer Umfrage im vorigen Jahr zuletzt auf Platz 49 von 53 weltweit gelandet. Einer der Hauptgründe, die genannt wurden: die fehlende Willkommenskultur, die Wahrnehmung, dass die deutsche Bevölkerung „nicht freundlich“ zu ausländischen Arbeitskräften sei.

Und der zweite Aspekt?

Hier möchte ich den weit verbreiteten Antisemitismus nennen, der zwar kein neues Phänomen ist, der aber seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 in Deutschland noch sichtbarer geworden ist. Ein Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden bedroht, das demokratische Gemeinwesen, den Zusammenhalt, und der eben in der Migrationsgesellschaft stattfindet.

Warum wird die postmigrantische Gesellschaft gerade jetzt so bedroht?

Sie war noch nie besonders konsolidiert oder akzeptiert. Deutschland hat im öffentlichen Diskurs erst Anfang des Jahrtausends anerkannt, eine Migrationsgesellschaft zu sein, obwohl es schon lange Zeit Migrationsbewegungen gab, unter anderem natürlich die sogenannten Gastarbeiter. Die Gesellschaft der Vielen wurde hierzulande immer auch in Frage gestellt, Rassismus gab es schon immer. Was sich vor zehn Jahren geändert hat, ist, dass es mit der AfD einen parlamentarischen Arm gibt, der das Ganze flankiert.

Inwiefern spielt die Grenzöffnung für syrische Flüchtlinge im Jahr 2015 noch eine Rolle?

Die Ablehnungskultur hat sich ja erst später gebildet, zunächst gab es damals eine Willkommenskultur, die viele überrascht hat. Ein bisschen hat sich das wiederholt, als 2022 ukrainische Geflüchtete nach Deutschland kamen. Viele Menschen wollten freiwillig helfen, auch das findet in diesem Land statt. Aber die Gesellschaft hat in den letzten Jahren viele Krisen erlebt, die Corona-Pandemie hat unglaubliche Auswirkungen, wir hatten eine Rezession, und solche Krisen gehen immer einher damit, dass nach Schuldigen gesucht wird und dass Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit stärker werden.

Wir haben diesen Sommer Gewalttaten erlebt, die mutmaßlich von Menschen mit Migrationshintergrund begangen wurden und bundesweit Aufsehen erregten. Zum Beispiel das Attentat in Mannheim oder die Tötung eines jungen Mannes nach einer Abiturfeier in Bad Oeynhausen. Wie wirken sich solche Ereignisse auf die Migrationsdebatte aus? Gibt es da berechtigte Sorgen und Ängste?

Angesichts der Bedrohung durch Gewalt sind Sorgen und Ängste natürlich gerechtfertigt, aber ob das unter dem Stichwort Migration richtig aufgehoben ist, ist fraglich. Die Frage nach der vermeintlich erhöhten Kriminalität von Migrantinnen und Migranten ist nicht neu. In vielen Fällen ist Migration aber gar nicht der relevante Faktor für kriminelle Handlungen, sondern zum Beispiel der ökomische Status oder Bildung – also Aspekte, bei denen Migrantinnen und Migranten in Deutschland strukturell benachteiligt sind. Außerdem sind Jugendliche bei bestimmten Straftaten überproportional vertreten, und gerade in diese Altersgruppe ist der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund höher. Hinzu kommen ausländerrechtliche Verstöße, auch die fließen in diese Statistiken ein. Es geht nicht darum, Gewalttaten kleinzureden. Aber es gibt eben auch Faktoren wie Armut, ]Männlichkeit oder psychische Probleme, über die wir reden müssen. Wenn man das Problem ernsthaft lösen will, dann muss man es sich erstmal genau ansehen

Auch nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 wurde in der Öffentlichkeit wieder schärfere Kritik an der deutschen Migrationspolitik geübt, als die Bilder von israelfeindlichen Demonstrationen in deutschen Städten im Fernsehen liefen. Ist es gerechtfertigt, da einen Zusammenhang herzustellen?

Teilweise wird da leider extrem unsauber berichtet. Menschen mit Migrationshintergrund, Geflüchtete, Ausländer, deutsche Staatsbürger –  alle werden in einen Topf geworfen. Daran kann man sehen, wie migrationsbezogener Populismus betrieben wird, von der Politik, aber leider auch medial flankiert. Man kann es gut zeigen am Begriff des „importierten Antisemitismus“, der ja suggeriert,  da sei was ins Land gekommen, mit dem wir zuvor kein Problem hatten. Würden wir es abschieben, wäre es nicht mehr da. Alle Statistiken widersprechen dem. Ja, es gibt in manchen Gruppen mit Migrationshintergrund verstärkt antisemitische Einstellungen. Aber das ist  ein Grundproblem der deutschen Gesellschaft. Natürlich sollte man auch schauen, was in deutschen Moscheen gelehrt wird und was islamistische Netzwerke machen. Aber bei vielen der Demonstrationen ging es nicht nur um einen vermeintlich muslimischen, sondern um einen säkularen linken Antizionismus. Und die Teilnehmenden waren deutsche Staatsbürger. Pauschalisierungen helfen uns hier nicht weiter, und diese Präzision vermisse ich in den Debatten und in der Berichterstattung.

Welche Rolle könnte der Lokaljournalismus spielen, wenn es um die Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und um einen genaueren Blick beim Thema Migration geht?

Der Lokaljournalismus hat da eine große Verantwortung und bietet eine große Chance. Er ist einfach näher dran an den Menschen. Es ist leichter, den Kontakt zu den Akteuren vor Ort herzustellen und auch die Perspektive der Betroffenen aufzuzeigen. Zum Beispiel beim Thema Antisemitismus: Hier können jüdische Stimmen hörbar gemacht werden, die erzählen, was Antisemitismus für sie bedeutet. Auch in der Migrationsdebatte hört man kaum die Stimmen derjenigen, die hierher gekommen sind. Im Lokalen kann man auch greifbarer über positive Beispiele berichten oder zeigen, wo Migration dringend gebraucht wird. Der Lokaljournalismus kann die Überlastung von Kommunen beschreiben, aber eben auch die konkreten Auswirkungen des Fachkräftemangels.

Man hat den Eindruck, wenn eine Zeitung positive Migrationsgeschichten erzählt, etwa über die Integration von syrischen Jugendlichen in den Arbeitsmarkt, dass es da Menschen gibt, die von vorneherein abwinken und sagen, ja, das wollen sie uns nun wieder weismachen.

Häufig geht es bei diesen Leuten um die Angst vor einem ökonomischen Abstieg. Und das wird verknüpft mit Menschen, die zu uns kommen. Hier kann der Lokaljournalismus anknüpfen: Was wäre denn, wenn es die Geflüchtetenunterkunft nicht gäbe? Würde dann der Ortsbus wieder regelmäßig fahren, wären die Mieten niedriger? Man erreicht natürlich nur die Leute, die noch eine gewisse Offenheit haben. Es gibt bekanntermaßen viele Menschen, die sich überhaupt nicht mehr über Zeitungen und pluralistische Medien informieren, sondern nur noch über soziale Netzwerke. Da stößt auch der Lokaljournalismus an gewisse Grenzen.

Interview: Stefan Wirner

Das Gespräch wurde Mitte August 2024 geführt.

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Dr. Sina Arnold

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt an der Technischen Universität Berlin. (Foto: Ute Langkafel) E-Mail: arnold@tu-berlin.de

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