Rechtfertigungen? Nein, danke!
von Emely Hofmann
Seit dem Messerattentat in Solingen scheint in der Gesellschaft etwas gekippt zu sein: Plötzlich ist überall die Rede von Massenabschiebungen, auch nach Afghanistan und Syrien. Der Unmut gegen Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund wächst. Das erzählt auch Heba Alkadri, Volontärin der WAZ in Essen. Sie flüchtete vor acht Jahren vor dem Krieg in Syrien und fand in Deutschland ein neues Zuhause. In einem persönlichen Essay beschreibt sie ihre Gedanken und Gefühle nach dem Anschlag von Solingen.
Idee
„Am Montagmorgen nach dem Anschlag hatte ich Frühschicht. Solingen war noch allgegenwärtig und beherrschte die Nachrichten. Es fiel mir schwer, mich emotional von der Berichterstattung zu distanzieren. Überall hörte und las ich von ‚dem Syrer‘ und ständig ging es um mögliche Abschiebungen“, erinnert sich Alkadri. „Von vielen meiner Freunde habe ich gehört, dass sie wütend und nervös sind. Nicht, weil sie etwas damit zu tun hatten, sondern weil sie wussten, was danach folgen würde. Auf Facebook habe ich gesehen, wie syrische Freunde und Bekannte Angst hatten, bald ihre Koffer packen zu müssen. Manche trauten sich gar nicht mehr aus dem Haus“, erzählt sie weiter.
„An diesem Tag kam die Lokalredaktion Essen der WAZ auf mich zu. Ich sollte Syrer zu den Ereignissen in Solingen befragen. Die Redaktion wollte ihnen eine Stimme geben. Aber ich war skeptisch. Ich kenne diesen Rechtfertigungsdruck, den wir als Syrerinnen und Syrer haben. Also sagte ich meine Meinung“, beschreibt Alkadri. „Schließlich wurde mir vorgeschlagen, meine Gedanken und Gefühle selbst aufzuschreiben.“
Umsetzung
Für Alkadri war es zunächst ungewohnt, aus einer sehr persönlichen Perspektive auf Deutsch zu schreiben. „Ich musste meinen Mut zusammennehmen. Ich habe mich damit ja auch sehr verletzlich gemacht“, gibt die Volontärin preis. Die Idee für die konkrete Umsetzung kam aus der WAZ-Chefredaktion: Alkadri setzte sich mit ihrer Kollegin Sophie Sommer zusammen und sprach mit ihr über ihre Gedanken und Gefühle. „Dieses Gespräch war sehr wichtig für mich. In der Stunde, die wir uns genommen haben, konnte ich viele meiner Gedanken und Gefühle ausdrücken. Es war ein emotionaler Austausch auf Augenhöhe, der mich gestärkt hat,“ betont die Volontärin.
Nach dem Gespräch ging Alkadri eine Stunde zu Fuß nach Hause. „Die ganze Zeit habe ich über das Gesagte nachgedacht.” Die Tiefe und Klarheit, die man in ihrem Text spürt, verdankt sie dem offenen Austausch und dem Respekt und Vertrauen der Chefredaktion und der Kolleginnen und Kollegen. „Man kann sich nur so öffnen, wenn man Vertrauen hat und sich sicher fühlt,“ ergänzt sie.
„Aber mein Verantwortungsgefühl für meine syrischen Mitbürgerinnen und Mitbürger war groß!” Alkadri wollte ihnen zeigen, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sind und diese Perspektive auch in den Medien sichtbar machen, wie sie im Gespräch mit der drehscheibe betont. Trotzdem hat die junge Journalistin in der Nacht vor der Veröffentlichung des Textes nicht gut geschlafen, die Sorge vor möglichen Reaktionen war groß.
Reaktionen
Der Mut hat sich für Alkadri ausgezahlt. „Ich war total überrascht. Ich habe noch nie so viele positive Rückmeldungen bekommen“, erzählt die Volontärin. „Ich hatte mit vielen negativen Zuschriften gerechnet, bis auf zwei waren aber nur bestärkende Mails und Briefe dabei. Von einem Leser habe ich sogar selbstgemachte Marmelade aus dem eigenen Garten bekommen.“ Am meisten freut sich Alkadri aber über die Reaktionen von anderen Syrerinnen und Syrern, die auch in Deutschland leben. „Sie haben sich gefreut, dass endlich mal jemand schreibt, wie wir uns fühlen“, betont die Volontärin. Insbesondere dass der Text auf Deutsch und nicht auf Arabisch ist, wurde in den Kommentaren hervorgehoben. „Man fühlt sich verstanden und gehört, und das gibt Kraft und baut Brücken“, erklärt sie.
Soziale Medien
Aufgrund der positiven Resonanz entstand die Idee, ein Video für die sozialen Medien zu produzieren. Darin spricht Alkadri über ihre Gedanken und Gefühle nach dem Anschlag in Solingen und den anschließenden Debatten über Zugehörigkeit und Abschiebung. „Am Anfang war ich skeptisch. In den sozialen Medien herrscht oft ein rauer Ton und jeder kann kommentieren“, erzählt sie. „Aber das Videoteam hat mich bestärkt, ich habe gespürt, dass sie hinter mir stehen. Die Entscheidung lag bis zum Schluss bei mir, und wenn ich es anders gewollt hätte, hätten sie das Video gelöscht.” Das habe ihr Sicherheit gegeben. Das Video wurde sowohl auf dem Lokalkanal der WAZ-Essen als auch auf dem Instagram-Kanal der WAZ-Redaktion und dem der Funke-Volos gepostet. „Auch hier war ich von den Reaktionen überrascht. Es gab durchweg positive Kommentare. Soweit ich weiß, musste nichts gelöscht werden.“
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drehscheibeTipp:
Aus Syrien geflohen, in Deutschland angekommen. Droht nun die Abschiebung? Die Redaktion fragt bei lokalen Behörden nach, wie die aktuelle Situation in den Kommunen aussieht. Was sind die aktuellen Bedingungen für Geflüchtete aus Syrien? In welchen Fällen könnte das Albtraum-Szenario der Abschiebungen Realität werden?
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